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Die beliebten Kalendermedaillen: Zum Lesen braucht man eine gute Lupe und viel Geduld

Um die Frage, wann ein neues Jahrhundert beginnt, hat es schon in früherer Zeit gelehrte Disputationen gegeben. Der berühmte Gothaer Medailleur Christian Wermuth formulierte die „Jahrhundertfrage“ auf einer Neujahrsmedaille von 1700 so: „Hoert doch Wunder / Im Iahr MDCC wusten die Leuthe nicht wie alt sie waren.“ Auf der Vorderseite sieht man einen geflügelten Cupido, der zwischen dem 17. und dem 18. Jahrhundert wählen muss und sich fragt: „Wo sind wir“. In einem Angebotskatalog von 1698 „vor curiöse gelehrt und ungelehrte Liebhaber“ finden sich Beschreibungen verschiedener Medaillen, die wie ein kleiner, kostbarer Taschenkalender „Zum täglichen Gebrauch / Zeit Lebens / bey sich zu tragen“ sind.


Auf der Medaille von 1700 fragt sich Cupido: „WO SIND WIR“ – im 17. oder schon im 18. Jahrhundert?


Kalendermedaille von Christian Wermuth, 1694.

Abb. aus W. E. Tentzels „Saxonia numismatica“ (Ernestinische Linie).


Der berühmte Stempelschneider erklärt, wie man den metallenen Taschenkalender täglich „accuratissime“ handhaben soll. Auf ihnen findet man Angaben über Sonne und Mond, Jahresanfänge, Schaltjahre, Wochenbeginn, hohe kirchliche Feiertage, die längsten und die kürzesten Tage und vieles andere. Das „Astronomische Schaustück mit dem curiösen stetswährenden Calender“ wurde in der Silberversion für drei Taler, in vergoldetem Kupfer für 27 Groschen und in englischem Zinn für 14 Groschen angeboten. Neben den Kalendermedaillen mit winzigen Zahlen hielt Wermuth „wegen blöder Augen“ auch solche mit größeren Ziffern feil, also für Leute, die nicht gut sehen können.


Vollgespickt mit Bildern, Geschichten und schön-schaurigen Moritaten, mehr oder weniger authentischen Beschreibungen ferner Länder und unerhörter, ja auch unglaublicher Begebenheiten sowie mit Stammbäumen und Angaben über Ereignisse an Fürstenhöfen waren gedruckte Kalender ein äußerst beliebtes Medium und sind auch heute wichtige Quellen für Geschichtsforscher und Kulturwissenschaftler. Selbstverständlich enthalten die Kalender in handlichem Taschenformat astronomische Daten und eine Auflistung der Feiertage und Kalenderheiligen sowie Wetterregeln und anderen nützliche Informationen. Für die Hersteller, Verleger und Vertreiber waren die für unterschiedliche Zwecke und Empfänger gedruckten Kalender ein gutes Geschäft.

Berühmt waren die Kalender der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Einer der Gründe für ihre Stiftung auf Initiative des Universalgelehrten Gottfried Wilhelm Leibniz war die Kalenderreform von 1700, die den in den evangelischen Ländern des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation schon seit 1582 in den katholischen Ländern geltenden Gregorianische Kalender übernahm. Das machte umfangreiche astronomische Berechnungen und die Herausgabe von Kalendarien nötig und zwang die Bevölkerung, sich mit den neuen Berechnungen vertraut zu machen. Das Monopol auf solche Druckwerke war eine der wichtigsten Einnahmequellen der Berliner Akademie, die ansonsten zu Beginn des 18. Jahrhunderts finanziell nur kümmerlich ausgestattet war, weil Steuer- und andere Einnahmen anderweitig für höfischen Prunk und kostspielige Bauten ausgegeben wurden oder illegal in die Taschen von korrupten Grafen flossen, die man „Dreifaches Weh“ nannte.


Tragbare Kalender in Form von Medaillen hat man auch in England hergestellt. Auf der Rückseite der Ausgabe von 1784 sind Geburtstage von König Georg III. und seiner Familie notiert.


Kalendermedaillen sind überzogen mit winzigen Zahlen, Symbolen der Planeten sowie Angaben über Tage, Wochen und Monate, mitunter auch über „himmlische“ Ereignisse wie Sonnen- und Mondfinsternisse und anderes. Man musste und muss ein gutes Auge oder eine Lupe haben, um die Schriften und Zahlen entziffern zu können. Schaut man sich die Kalendermedaillen an, so kann man nur staunen, was Stempelschneider alles auf ihnen untergebracht haben. Der Variantenreichtum dieser mitunter aus Gold zu Geschenkzwecken am Jahreswechsel, meist aber aus Silber, Kupfer oder Zinn gefertigten Gepräge ist erstaunlich. Man findet senk- und waagerechte Zahlenreihen, dann gibt es auch Datensammlungen, die wie bei einer Torte aufgeteilt sind und die Zahlen vom Mittelpunkt strahlenförmig zum Rand oder kreuzförmig zeigen. Nicht zu vergessen sind „Ewige Kalender bis ans Ende der Welt“, wie Christian Wermuth schrieb. Dazu kommen Kalendermedaillen aus gravierten oder geprägten Scheiben mit kleinen Öffnungen, die man gegeneinander verschieben kann und die Zusatzinformationen enthalten. Versehen mit sinnigen Sprüchen, frommen Mahnungen, Sinnbildern für Zeit und Ewigkeit, für Glück, Frieden und Wohlstand, sind die Prägestücke eindrucksvolle Kunstwerke, die zu sammeln sich lohnt. Im Handel kommen sie meist zu moderaten Preisen vor, sodass Interessenten schöne Kollektionen zusammen bekommen. Die seltenen Ausführungen in Gold, die man traditionell auch als eine Art Kapitalanlage für schlechte Zeiten verschenkte, erreichen natürlich Spitzenpreise.


Kalendermedaille von 1809 mit dem preußischen Königspaar Friedrich Wilhelm III. und Luise


Neben den „reinen“ Kalendermedaillen, die man auch gehenkelt bei sich tragen konnte, gibt es Prägestücke, die Kalendarien mit allegorischen Figuren verbinden beziehungsweise ganz auf diese verzichten, sondern nur noch Allegorisches darstellen. Der Berliner Medailleur Daniel Friedrich Loos zeigt auf einer Medaille den geflügelten Chronos, der auf eine Pyramide die Jahreszahl 1805 schreibt. Um diese Figur und auf der Rückseite finden sich zahlreiche kalendarische Angaben. Im unteren Abschnitt der Rückseite hat der Graveur sogar Angaben über die Geburtstage des Königspaares, der Thronbesteigung und der Erhebung Preußens zum Königreich untergebracht. Aus Loos‘ Werkstatt stammt auch eine besonders gelungene klassizistischen Medaille mit der programmatischen Inschrift „Vergangenheit Gegenwart Zukunft – Aus allem schöpfe dir Freuden“. Dargestellt ist ein efeuumrankter Januskopf, der zurück und nach vorn schaut. Eine weitere Loos-Medaille feiert das Ende des 18. Jahrhunderts mit einem Bildnis König Friedrich Wilhelms III. und dem preußischen Adler über Attributen von Wirtschaft, Handel, Kunst und Wissenschaft. Die Umschrift spricht den König mit den Worten „Ihm danken wir am Schlusse des Jahrhunderts“ an. Loos schuf darüber hinaus Medaillen zur Jahrhundertwende mit dem Januskopf auf der Vorderseite und einen Flötenspieler, der unter einem Baum in der von der Sonne beschienenen Landschaft sitzt. „Der edle Baum verbreite Schirm und Früchte“, wünscht diese Medaille.


Drehbare Kalendermedaille von 1863 zum 50. Jahrestag der Völkerschlacht bei Leipzig


Dass auch in unserer Zeit Kalendermedaillen hergestellt werden, zeigen da und dort im Handel angebotene Arbeiten, auf denen Kalendarium für mehrere Jahre von den drehbaren Scheiben abgelesen werden können. Beispiele aus Wien zeigen, wie sich auf solchen Prägungen die Zeiten verändern. Eine Medaille von 1934 unterstreicht die Janusköpfigkeit der Zeit. Auf einer weiteren Medaille von 1941 gibt es den Hinweis, dass der 20. April Hitlers Geburtstag ist. Kalendermedaillen aus der Nachkriegszeit zeigen antike Götter als „Jahresregenten“. Für vergleichsweise geringe Beträge sind solche Arbeiten zu haben. Dazu kommen ganz neue Produktionen, denn viele Künstler und Medaillenhersteller haben sich die Gelegenheit der Umstellung von 1999 auf 2000 nicht entgehen lassen und boten auch dazu sehens- und sammelnswerte Stücke an.


Man muss sich sehr gut auskennen, um die mit Zahlen, Daten und Namen übersäte Kalendermedaille auf das Jahr 2009 verstehen zu können.


In dem Buch von Werner Strothotte Die Zeit in der Numismatik - Kalender-Medaillen Münzen, Medaillen, Plaketten zum neuen Jahr (2004) wird anhand von mehr als 1800 Beispielen und in Bildern gezeigt, wie Jahreszahlen und Zeiten auf geprägtem, manchmal gegossenem Metall verewigt wurde und wird. Zu jedem Stück teilt der Verfasser Auktionsergebnisse mit. Erstmals werden in dem auch als Zitierwerk genutzten Buch auch alle die von deutschen Gießereien seit 1805 herausgegebenen Neujahrsplaketten abgebildet, ausführlich beschrieben und bewertet. Hierunter sind viele Stücke aus Privatsammlungen und aus Museumsbeständen, die bisher nicht publiziert wurden. Schließlich erfasst das Buch Nürnberger, Regensburger und Stuttgarter Neujahrsdukaten und Neujahrsklippen, darunter auch viele weitgehend unbekannte Stücke. Ausführliche Beschreibung antiker und mittelalterlicher Neujahrsgeschenke aus Münzmetall mit Bezügen zur Zeitrechnung runden das Werk ab.


Alle Abbildungen entstammen dem Fotoarchiv des Autors.

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