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Der Efeukranz des Dionysos: Ein göttliches Attribut und seine Ikonographie

Wer mit antiken griechischen Münzen nicht vertraut ist, aber zufällig an eine gerät, die vorderseitig ein Porträt zeigt, fragt sich wahrscheinlich als erstes, wer der oder die Dargestellte wohl sein mag? Um das Rätsel leicht und schnell zu lösen, sollte der Betreffende daran denken, dass es sich mit antiken Göttern oder Königen in gewissem Sinne ganz ähnlich verhält wie mit unseren Autos. Was für ein Auto vor ihm steht, weiß er, ohne sich hineinzusetzen, den Motor zu starten und auch nur einen Meter weit zu fahren, nämlich wenn er sein Logo bzw. Markenzeichen erkannt hat: ein Stern im Kreis = Mercedes, ein V und W im Kreis = VW, vier konzentrische Kreise in einer Linie = Audi usw.


Nun, bei antiken griechischen Münzen mit Porträts ist es ganz ähnlich: Findet sich auf einem Porträt ein Diadem (ein Band) im Haar des Abgebildeten, ist es in der Regel ein hellenistischer König und nie ein Gott oder eine Göttin. Götter und Göttinnen haben nämlich ganz eigene, sie näher charakterisierende Attribute. Zeus, der oberste Gott, trägt fast immer einen Vollbart und einen Lorbeerkranz, seltener einen Eichenkranz im Haar. Apollon ist bartlos mit Lorbeerkranz im Haar. Poseidon hat Vollbart und einen Seegraskranz im Haar. Dionysos ist bärtig oder bartlos mit Efeukranz im Haar. Pan trägt zwei Stirnhörner. Athena ist die einzige Göttin mit attischem oder korintischem Helm auf dem Haupt. Artemis trägt in der Regel einen geschulterten Köcher oder Bogen und Köcher. Hera schmückt immer eine Stephane im Haar und bisweilen auch ein zarter durchsichtiger Hinterhauptschleier. Nike trägt große oder kleine Flügel.


Und so haben alle olympischen Götter eigene Attribute, an denen sie leicht zu identifizieren sind. Auf diese Weise konnten die Menschen der Antike sehr schnell erkennen, welcher Gott oder Göttin ihnen auf der einen oder anderen Münze begegnete. Dies war wichtig, weil der Name der Gottheit in der Regel nie schriftlich genannt wurde, wenn man von ein paar Ausnahmefällen absieht. Auch zeigten die Prägeherren (Könige oder Poleis) dem Betrachter damit sehr deutlich, zu welchem Gott oder Göttin sie ein Verhältnis besonderes Nähe hatten.


Der Efeukranz, ich erwähnte es bereits, war das Attribut des Gottes Dionysos. Als Gott der Fruchtbarkeit und Vegetation entdeckte der von einem Silen erzogene Dionysos den Wein und wurde damit auch zum Gott des Weines, des Rausches und der Ekstase. Nachdem der Athener Prinz Theseus die kretische Prinzessin Ariadne auf Naxos zurückgelassen hatte, fand sie Dionysos, heiratete sie und zeugte mit ihr vier Kinder. Aber Dionysos soll darüber hinaus auch eine leidenschaftliche Liebe zum schönen Satyr Ampelos gepflegt haben. Alte Silene und junge Satyrn, die lüsternen und derb-ausgelassenen Naturdämonen, gehörten ebenso zu seinem festlichen Gefolge (dem Thiasos) wie die Mainaden, die wild und ekstatisch tanzenden Frauen. Diesen allen gemeinsam war die Liebe zum Wein und die immense Freude an sinnlichen Genüssen. Ekstatische und ausschweifend orgiastische Feste waren somit nichts Ungewöhnliches für das Gefolge dieses Gottes und auch nicht für die Menschen, die Dionysos in ihren Kulten orgiastisch und ekstatisch feierten. Das herausragendste Attribut von Dionysos waren neben dem Efeukranz der Thyrsosstab, ein Riesenfenchel-Stängel mit einem Pinienzapfen in der Spitze. Efeu und Weinstock waren diesem Gott heilig, genauso wie die großen Raubkatzen Panther, Tiger, Leopard und Gepard.


Dionysos erscheint auf antiken griechischen Münzen in aller Regel im Porträt mit Efeukranz im Haar und deutlich seltener als Ganzkörperdarstellung, wenngleich es den auf einem Esel lagernden Dionysos ebenso gibt, wie den mit einer großen Weintraube von vorn stehenden Gott. Die nachfolgend abgebildeten Münzen mit Dionysos stellen beileibe nicht alle jemals in der antiken griechischen Welt mit diesem Gott geprägten Münzen dar, sondern sind vielmehr eine kleine chronologisch angeordnete Auswahl der imposantesten, ästhetisch gelungensten und eindrucksvollsten Münzporträts dieses Gottes.

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Abb. 1: Naxos (Sizilien): Tetradrachmon (um 461–430 v. Chr.), Silber, 17,25 g,

Ø (Höhe, Rs.) 26 mm, Münzstätte Naxos.

Quelle: Numismatica Ars Classica, Auktion 96 (6. Oktober 2016), Los 1019


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Abb. 2: Naxos (Sizilien): Tetradrachmon (um 430/20–415 v.Chr.), Silber, 17,14 g,

Ø (Höhe, Vs.) 25 mm, Münzstätte Naxos

Quelle: Numismatica Ars Classica, Auktion 100 (29. Mai 2017), Los 87


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Abb. 3: Theben (Boiotien): Stater (um 426–395 v. Chr.), Silber, Theben (Boiotien), 11,89 g,

Ø (Höhe, Rs.) 22 mm, Münzstätte Theben

Quelle: MA-Shops, M&M GmbH (Oktober 2020)


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Abb. 4: Kyzikos (Mysien). Stater (um 400–350 v.Chr.), Elektron, 16,0 g,

Ø (Höhe, Vs.) 20 mm, Münzstätte Kyzikos.

Quelle: Ira & Larry Goldberg Coins & Collectibles, Auktion 72 (5. Februar 2013), Los 4360


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Abb. 5: Metapont (Lukanien): Nomos (um 400–340 v. Chr.), Silber, 6,50 g,

Ø (Höhe, Vs.) 20,5 mm, Münzstätte Metapont.

Quelle: MA-Shops, Comptoir des Monnaies, F (Juli 2025)


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Abb. 6: Maroneia (Thrakien). Tridrachmon (386/85–348/47 v. Chr.), 16,40 g.

Ø (Höhe, Vs.) 23 mm, Münzstätte Maroneia.

Quelle: Numismatik Naumann, Auktion 88 (5. April 2020), Los 47


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Abb. 7: Mytilene (Lesbos). Hekte (377–326 v. Chr.), Elektron, 2,55 g, Ø (Höhe, Vs.) 10 mm,

Münzstätte Mytilene. Quelle: MA-Shops, Ingemar Wallin Mynthandel, Schweden (Oktober 2020)


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Abb. 8: Lamia (Thessalien): Hemidrachme bzw. Triobol (um 370–352 v. Chr.), Silber, 2,52 g,

Ø (Höhe, Vs.) 16 mm, Münzstätte Lamia.

Quelle: MA-Shops, Gorny & Mosch (Februar 2012)


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Abb. 9: Herakleia Pontike (Bithynien). Doppel-Sigloi bzw. Stater des Timotheos und des Dionysios

(um 345–337 v. Chr.), 9,74 g, Ø (Höhe, Vs.) 22 mm, Münzstätte Herakleia Pontike.

Quelle: MA-Shops, Deniz F. Grotjohann (Oktober 2012)


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Abb. 10: Prusias II. von Bithynien (182–149 v. Chr.). Bronzenominal (um 182–149 v. Chr.), Bronze, 5,87 g,

Ø (Höhe, Vs.) 21 mm, Münzstätte Nikomedeia.

Quelle: MA-Shops, ODYSSEUS, Numismatique, Glyptique, Librairie, F, (Oktober 2022)


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Abb. 11: Maroneia (Thrakien): Tetradrachmon im reduzierten attischen Standard (um 148/146–80/79 v. Chr.), Silber, 16,60 g, Ø (Höhe, Vs.) 31 mm, Münzstätte Maroneia.

Quelle: Künker, Auktion 101 (22. Juni 2005), Los 1020


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Abb. 12: Amisos (Pontos) unter Mithradates VI. Eupator (um 120/119–63 v. Chr.). Nominal B (um 100–95 oder um 90–80 v. Chr.), Bronze, 8,56 g, Ø (Höhe, Vs.) 22 mm, Münzstätte Amisos.

Quelle: MA-Shops, Senatus Consulto, Coins & Antiquities, Dänemark 2025


Was den in der Mittelmeerwelt vielfach vorkommenden Efeu (Hedera helix) angeht, so wurde er, wie die abgebildeten Münzen, aber auch zahlreiche Keramikdarstellungen beweisen, dem Weingott Dionysos zugeordnet. Deswegen trug Dionysos bei den alten Griechen auch den Beinamen „kissophoros“ (der Efeubekränzte). Aber wäre es nicht naheliegend gewesen, wenn der Weingott einen Weinblätterkranz und nicht einen Efeukranz getragen hätte? Nun, im Prinzip schon. Allerdings gab es einen speziellen Grund, warum dies nicht so war. Bei Hellmut Baumann beispielsweise heißt es dazu: „Die dionysischen Anthesteria mit dem feierlichen Einzug des bekränzten Dionysos und seines Gefolges zum Fest der Weinfaßöffnung fanden am 11., 12. und 13. des Monats Anthesterion statt, nach unserem Kalender etwa Ende Februar, wenn die Weinreben noch keine Blätter tragen, aus denen man Kränze hätte flechten können. Man nahm daher die dem Rebstock ähnlichen Efeuzweige zur Bekränzung des Weingottes.“ (Hellmut Baumann: Pflanzenbilder auf griechischen Münzen, S. 22).


Betrachtet man die auf den Münzen dargestellten Efeukränze einmal vom ikonographischem Standpunkt, so wird klar, nicht alle Kränze tragen die gleiche Art Efeublätter. Während die meisten herzförmige Blätter aufweisen, zeigen die Kränze aus Abb. 1, 5 und 12 eher oval-lanzettliche Blätter. Ferner finden wir bei dem überwiegenden Teil der Kränze über der Stirn auch eine halbkugelförmige Fruchtdolde. Keine Dolde ist dagegen auf den Kränzen der Abbildungen 1, 2 und 5 zu entdecken. Dafür zeigt Abb. 11 sogar zwei Fruchtdolden. Auch sind die Blätter der Kränze nie einheitlich angeordnet. So weisen die Blätter auf den Kränzen der Abb. 1, 4, 6, 7 und 9 allesamt nach oben, sprich vom Hinterhaupt zur Stirn hin. Von der Stirn zum Hinterhaupt, nach unten also, zeigen die Blätter der Kränze aus Abb. 10 und 12. In diametral verschiendene Richtungen – einmal vom Gesicht weg und dann zum Gesicht hin – weisen die Blätter aus Abb. 8 und 11. Die Blätter aus Abb. 5 wiederum stehen geradezu senkrecht nach oben, was vermuten läßt, dass sie an das diademähnliche Haarband, das mit einem Maiandermuster verziert ist, von innen angenäht bzw. befestigt wurden. Der Efeukranz aus Abb. 2 ist bei eingehender Betrachtung eigentlich kein echter Pflanzenkranz, sondern ein auf einen Reif applizierter oder auf ein Textilband gestickter Blätterkranz. In Abb. 9 zeigt sich rechts unten neben dem Dionysoskopf noch der Pinienzapfen des geschulterten Thyrsos, des anderen bedeutenen Attributs dieses Gottes. Doch nicht allein die Efeukränze zeigen deutliche ikonographische Unterschiede, auch die Dionysos-Porträts fallen höchst unterschiedlich aus. Reichen sie doch stilistisch von archaiisch-frühklassisch, über hoch- und spätklassisch bis hin zu hellenistisch, was nicht zu wundern braucht, wenn man bedenkt, dass sie die Zeit von der Mitte des 5. Jhs. v. Chr. bis ins 1. Jh. v. Chr. umspannen.


Als Pendants zu diesen großartigen Dionysosköpfen zeigen sich folgende: Abb. 1 und 2 – hockender Silen mit Kantharos, einmal ityphalisch und einmal nicht; Abb. 3 – boiotischer Schild; Abb. 4 – Quadratum incusum; Abb. 5 – Gerstenähre als Wappen von Metapont; Abb. 6 – Weinrebstock mit vier großen Weintrauben; Abb. 7 – bärtiger Silenskopf; Abb. 8 – Weinkanne mit Kännchen; Abb. 9 – Herakles ein Tropaion errichtend; Abb. 10 – Kentaur Chiron beim Leierspiel; Abb. 11 – Dionysos mit großer Weintraube, zwei Speeren und vom Arm hängender Chlamys; Abb. 12 – Cista mystica mit Pantherfell und Thyrsos für die kultischen Dionysosprozessionen.


Michael Kurt Sonntag



Literatur: Peter Robert Franke, Max Hirmer: Die Griechische Münze, München 1964; Eva und Wolfgang Szaivert nach David R. Sear: Griechischer Münzkatalog. Bd. 1: Europa; Bd. 2: Asien und Arfika, München 1980–1983; Oliver D. Hoover: The Handbook of Greek Coinage Series. Vol. 1–10, Lancaster/London 2009–2018; Hellmut Baumann: Pflanzenbilder auf griechischen Münzen. München 2000; Hubert Cancik, Helmuth Schneider (Hrsg.): Der neue Pauly. Enzyklopädie der Antike, 16 Bde., Stuttgart,

Weimar 1996-2003.


Den in den Bildunterschriften erwähnten Quellen sei an dieser Stelle ausdrücklich und herzlich gedankt.


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