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Berliner Kriminalgeschichte: „Alles für eine Mark!“


Berliner Mordkommission (Dritter von links: Kriminalkommissar Gennat). [Bildquelle: RBB, Polizeihistorische Sammlung]

Viele historische Kriminalfälle haben einen Bezug zu zeitgenössischen Münzen. Zu den ersten Fällen des berühmten Berliner Kriminalkommissars Ernst Gennat (1880-1939) gehörte beispielsweise ein sogenannter Lustmord aus dem Ortsteil Tiergarten. Zu Pfingsten 1913 gelang es Gennat, den Sexualmord an dem 12-jährigen Botenjungen Otto Klähn aufzuklären, der die Stadt in Atem hielt. Am Samstag, dem 10. Mai 1913, war der Junge von einem Botengang freudestrahlend in das Lebensmittelgeschäft Lützowstraße 52 zurückgekehrt: „Schauen Sie sich mal das an, Herr Scholz, wieviel Trinkgeld mir der nette Herr gegeben hat! Mensch, sind ihre Kunden spendabel!“ (Regina Stürickow: Der Kommissar vom Alexanderplatz, Berlin 2000, S. 22) Otto hielt seinem Chef die offene Hand hin, in der ein fast neues Markstück aufblitzte. Das Trinkgeld war tatsächlich fürstlich. Die Münze bestand schließlich aus 900er Silber und hatte ein Gewicht von über fünf Gramm. Das Durchschnittseinkommen im Verwaltungsbezirk Berlin lag im Jahr 1913 bei 1.254 Mark im Jahr, also etwa hundert Mark im Monat. Ein Kilo Weizenbrot kostete zu dieser Zeit ganze 46 Pfennige. Nach dem Index der Verbraucherpreise des Statistischen Bundesamtes entspräche die Kaufkraft einer Mark im Jahr 1913 heute etwa 5,70 Euro. Das Lebensmittelgeschäft, in dem Otto Klähn arbeitete, war aber kein gewöhnliches: „Der Scholz’sche Laden ist in der Gegend berüchtigt. Das Geschäft wird nämlich mit Vorliebe von homosexuellen Männern der umliegenden Häuser und Straßen aufgesucht, die es auf die blutjungen Laufburschen abgesehen haben.“ (Ebenda, S. 30) Seit dem Feierabend an jenem Samstag war der blonde Otto Klähn verschwunden. Kriminalkommissar Ernst Gennat fand heraus, dass er das Angebot des spendablen Kunden angenommen hatte, sich nach Feierabend ein paar Mark dazu zu verdienen. Er war jedoch an einen Sadisten geraten. In den folgenden Tagen wurden mehrere Pakete mit den Einzelteilen des Opfers gefunden.

1 Mark (Deutsches Reich, 1913, 900er Silber, 5,6 Gramm, 25 mm, Auflage: 1.093.028 Exemplare). [Bildquelle: Münz- und Edelmetallhandel Andreas Fenzl]

Nach dem Ersten Weltkrieg wurde Berlin von der Not heimgesucht. Während der Inflationsjahre 1919-1923 verfiel der Wert der Mark. Hatte der Bedarf an Milch vor dem Krieg noch 1,2 Millionen Liter betragen, ging der Verbrauch bis Anfang Dezember 1922 auf 385.000 Liter täglich zurück. Mit anderen Grundnahrungsmitteln verhielt es sich ähnlich: Wurden im Jahr 1913 noch 54.000 Tonnen Butter in die Hauptstadt geliefert, waren es 1922 nur noch 800 Tonnen. Nach einer kurzen Zeit des Aufschwungs kehrte das Massenelend während der Weltwirtschaftskrise am Ende des Jahrzehnts zurück. Der Silbergehalt der Markstücke mit einem Gewicht von fünf Gramm war inzwischen deutlich abgesunken. In einem zeitgenössischen Roman aus dem Jahr 1932 werden die Tauschgeschäfte im städtischen Obdachlosen-Asyl in der Fröbelstraße (Ortsteil Prenzlauer Berg) geschildert. An den Wänden des Asyls stand überall „Handeln strengstens untersagt“. Dennoch wurde überall gehandelt. Sex gab es für zwanzig Pfennig und eine Handvoll Zigaretten. Ein Junge zog seine Schuhe aus und bot sie für eine Mark an. „Jeder versteht nur zu gut: eine Mark baren Geldes bedeutet ein Brot und ein halbes Pfund Margarine. Sogar Bankgeschäfte werden in der Wärmehalle getätigt. Jemand braucht eine Mark. Ein anderer gibt sie ihm. Als Pfand behält er die Stempelkarte des Schuldners. Am morgigen Zahltag treffen sie sich im Kassenraum des Wohlfahrtsamtes, und der Gläubiger lässt seinen Schuldner nicht eher wieder aus den Augen, bis er seine Mark und die ausbedungenen fünfzig Pfennig Zinsen hat.“ (Ernst Haffner: Blutsbrüder, Berlin 2013, S. 106)

1 Reichsmark (Deutsches Reich, 1927, 500er Silber, 5 Gramm, 23 mm, Auflage: 4.774.203 Exemplare). [Bildquelle: Ralf N. Kurzbach Münzhandel]

Kriminalkommissar Ernst Gennat hatte in dieser Zeit alle Hände voll zu tun. Die sogenannte BVG-Räuberkolonne hielt die Stadt in Atem. Nach einigen Überfällen auf Gaststätten hatten die schwer bewaffneten Männer am 15. September 1932 den Coup ihres Lebens gelandet. Aus einem Omnibus der Berliner Verkehrsgesellschaft (BVG) wurden am Morgen mehrere Kisten in die Filiale der Stadtbank am Charlottenburger Rathaus geschleppt. „Ihr Inhalt: Die Einnahmen der BVG aus dem Fahrscheinverkauf, vornehmlich Münzen, die hier entweder eingezahlt oder in Papiergeld gewechselt werden. Das Papiergeld wird dann in einer ebensolchen Kiste in den wartenden Bus gebracht. Es sind die Lohngelder für die Mitarbeiter all der Linien, die vom Betriebshof Helmholtzstraße ausgehen, rund 34.000 Mark in 50-, 20- und 10-Markscheinen.“ (Stürickow, S. 178) Plötzlich tauchten mehrere Gangster auf, zogen und entsicherten ihre Revolver und riefen: „Hände hoch, die Kiste her!“ Ein bewaffneter BVG-Beamter eröffnete das Feuer. Wenig später war er tot, ein zweiter schwer verletzt. Die Gangster flohen mit dem Geld in einem bereitstehenden Fluchtauto. Nach monatelanger Ermittlungstätigkeit im Berliner Untergrund konnte Kommissar Gennat den 21-jährigen Erwin Hildebrand festnehmen. Bald wurden auch seine Komplizen gefasst. Vier von ihnen erhielten im Juli 1933 wegen gemeinschaftlichen Raubmordes die Todesstrafe, zwei weitere kamen mit langjährigem Zuchthaus davon. Im April 1934 wurden die Todesurteile vollstreckt.

1 Reichsmark (Deutsches Reich, 1936, Nickel, 4,8 Gramm, 23 mm, Auflage: 34.096.840 Exemplare). [Bildquelle: MA-Shops, Bestcoin]

Am Abend des 12. Oktober 1938 stieg am S-Bahnhof Nikolassee eine junge Frau in das Taxi von Paul Weiß. Es war nicht ihre erste Fahrt mit diesem Fahrer. Als sie das Fahrtziel nennen wollte, kam ihr der Mann zuvor: „Weeß ick doch noch, Froileinchen, weeß ick doch noch! S’jeht zu die Villa von den Reichsminister Joebbels!“ (Stürickow, S. 261) Die Frau war Kindermädchen bei Propagandaminister Joseph Goebbels und hatte ein Zimmer in dessen Villa auf Schwanenwerder. Während der Fahrt über die Inselstraße (heute Wannseebadweg) sah Weiß ein anderes Taxi schräg an der Böschung stehen: „Is der besoffen oder wat?“ (Ebenda, S. 261) Der Fahrer setzte seine zunächst Tour fort. Nach zwei Minuten erreichen sie die Villa. Die junge Frau zahlte den Fahrpreis von wenig mehr als einer Reichsmark. Das Geld hatte sie schon ihrer Geldbörse entnommen und auf den Pfennig genau abgezählt. Der geringe Fahrpreis mag überraschen. Der Durchschnittslohn lag 1938 jedoch bei nur 165 Reichsmark im Monat. Die Münzen bestanden seit 1933 nicht mehr aus Silber, sondern aus Nickel. Nach Berechnungen der Deutschen Bundebank entspräche die Kaufkraft einer Reichsmark des Jahres 1937 heute etwa 4,30 Euro. Ein Kilo Weizenbrot kostete 37 Pfennige. Als Taxifahrer Weiß die Rückfahrt antrat, hielt er an dem so ungewöhnlich abgestellten Wagen seines Kollegen. Der Schofför lag etwas seitlich hinter dem Wagen – erschossen. Er war einem Raubmord zum Opfer gefallen. Kriminalkommissar Ernst Gennat verdächtigte zunächst einen ehemaligen Mitarbeiter des Propagandaministers. Doch der Verdacht zerschlug sich. Am 7. November 1938 wurde erstmals mithilfe des neuen Mediums Fernsehen in der Stadt gefahndet. Schon am nächsten Tag meldete sich ein Zeuge bei ihm. Ein 19-jähriger Versicherungsagent war der Täter!

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