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Italiens Nachkriegszeit: Bettler, Träumer, Abenteurer

Als der italienische Schriftsteller Curzio Malaparte im Sommer 1943 als Verbindungsoffizier mit

den US-Truppen in Neapel einrückte, war er von den Zuständen in der befreiten Stadt erschüttert: Frauen wurden für einige Dollar zu Prostituierten, Knaben verkauften sich für eine Tüte Bonbons. Der „Straßenhandel“ mit Dienstleistungen aller Art übertraf alles, was in Deutschland nach Kriegsende an der Tagesordnung war. Kamen ein paar amerikanische Soldaten die Straßentreppe herauf, boten sich die dort sitzenden Frauen gleichzeitig mit anschwellenden Stimmen dar: „Five Dollars! Five Dollars!“ Einige Tage später waren die Preise aber bereits im Sinken begriffen: „Ein Mädchen zwischen zwanzig und fünfundzwanzig Jahren, das vor einer Woche bis zu zehn Dollar wert gewesen war, kostete jetzt kaum vier Dollar.“ (Curzio Malaparte: Die Haut, Berlin 1986, S. 14). Aus allen Gegenden Süditaliens waren nun die Frauen zusammengeströmt. Selbst Knaben wurden verkauft. Ärmlich gekleidete Frauen an den Straßenecken priesen gellend: „Two dollars the boys, three dollars the girls!“ (Ebenda). Malaparte versuchte das entwürdigende Treiben gegenüber seinem amerikanischen Vorgesetzten zu rechtfertigen: „Unsere Frauen verdienen alle, dass man sie achtet, auch diejenigen, die sich für ein Päckchen Zigaretten verkaufen. Alle ehrbaren Frauen der ganzen Welt, auch die ehrbaren Frauen Amerikas, müssten von den armen Frauen Europas lernen, wie man sich mit Würde prostituieren kann, um seinen Hunger zu stillen. Wissen Sie, was Hunger ist, Mr. Flat?“ (Ebenda, S. 224f.).


Neapolitanische Familie im August 1944. [Bildquelle: Wikimedia, U.S. National Archives].


Armut gehörte im Süden der italienischen Halbinsel zum Alltag. Der Fischverkäufer Salvatore aus Marsala etwa hatte schon mit acht Jahren zu arbeiten begonnen: „Mein Vater starb 1955, draußen auf dem Meer. Er war Fischer und ist ertrunken. Wir waren sechs Kinder und unsere Großmutter musste uns durchfüttern. Es gab nur Brot, und natürlich viel Fisch, der einfach in Wasser gekocht wurde, ohne Salz, ohne Öl, mit nichts. Und so lebten wir vor uns hin. Wir Kinder hatten keine Schuhe; wir gingen barfuß. Erst Anfang der sechziger Jahre tauchten bei uns die ersten Schuhe auf. Die kamen aus Amerika und waren gebraucht. Sie kosteten 200 Lire.“ (Karl Hoffmann: Der abgelaufene Stiefel – 150 Jahre Italien, auf: deutschlandfunk.de). In Rom bettelten derweil alte Leute an der Spanischen Treppe. Kinder und Jugendliche stahlen Geldbörsen aus den Einkaufstaschen reicher Frauen. In einer Erzählung schildert der Schriftsteller Alberto Moravia, wie ein Bettler um Mitleid buhlte, indem er täglich ein kleines Mädchen aus der Nachbarschaft auf seine Tour mitnahm: „Eines Abends, nachdem ich zehn Stunden gebettelt hatte, ging ich mit Clementina an einen stillen Platz, um wie gewöhnlich meine Tageseinnahme zu zählen. Der stille Platz war eine der Treppen, die vom Longotevere Tor di Nona aus zum Fluss hinunterführen. Ich setzte Clementina auf eine Stufe, mich eine Stufe tiefer und leerte meine Taschen aus. Sie waren voll Kleingeld, das ich schnell zusammenklaubte und ordnete: ein Häufchen Fünferscheine, eins mit Zehnern und dann die Fünfziger. Die Fünf- und Zehn-Lire-Münzen häufte ich daneben. An jenem Abend waren auch zwei Scheine zu hundert und einer zu fünfhundert dabei; den letzteren hatte mir ein junger Mann gegeben, der seinem Mädchen imponieren wollte.“ (Alberto Moravia: Die Lichter von Rom, Berlin 1973, S. 187).

5 Lire (Italien, 1947, Aluminium, 2,5 Gramm, 27 mm). [Bildquelle: Numista, Heritage Auctions].


Schon während des Krieges war die Lira in fortschreitender Inflation versunken. Zwischen 1938

und 1943 stiegen die Lebenshaltungskosten auf das Dreieinhalbfache. Nach Kriegsende legten

die Besatzer den Dollarkurs der Lira mit 1:100 fest. Die Inflation setzte sich jedoch fort.

Im Jahr 1945 war der Kurs bereits auf 1:1.200 gestiegen. Erst mit dem Marshall-Plan kam es zu einer Stabilisierung. Die erste Generation der Münzen aus der Nachkriegszeit mit vier Wertstufen zwischen einer Lira und zehn Lire erschien 1946 und bestanden aus einer Aluminiumlegierung.

Auf der Vorderseite zeigen die Stücke aus der Prägestätte Zecca di Roma einen pflügenden Bauern bzw. verschiedene Motive aus der Geschichte des Landes. Auf der Rückseite sind Pflanzen und Früchte abgebildet. Die zweite Generation von Münzen, ebenfalls aus Aluminium, erschien ab 1951. Diese Stücke waren kleiner und mit neuen Motiven versehen. In den Jahren 1954/55 wurden die vier Wertstufen um Münzen zu 50 und 100 Lire aus einer Eisen-Chrom-Nickel-Legierung ergänzt.

Im Jahre 1958 kam eine Silbermünze zu 500 Lire hinzu, die mit dem Anstieg des Silberpreises aber bald wieder aus dem Umlauf verschwand. Für eine D-Mark erhielt man in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts etwas mehr als 150 Lire. In den sechziger Jahren bekam ein Tourist für 100 Lire noch ein Eis. Die bis zur Einführung des Euro in Italien grassierende Inflation setzte in den siebziger Jahren ein.

50 Lire (Italien, 1954, Edelstahl, 6,2 Gramm, 25 mm). [Bildquelle: NumisCorner].


Wovon der minderjährige Marcello aus Rom unter den ärmlichen Verhältnissen der fünfziger Jahre immer wieder träumte, wird in einem zeitgenössischen Roman geschildert: „In dem Traum fand

er Geld, nicht eine einzelne Münze oder einen Schein, sondern eine ganze Ader von Münzen und Scheinen. Das Geld lag in einer ungepflasterten Straße in seiner Nachbarschaft im Dreck. Er lief gerade nah am Bordstein entlang, als er ein halb von Staub bedecktes Fünfzig-Lire-Stück sah und aufhob. Kaum war die erste Münze in seiner Hand, sah er eine weitere, die beim Aufheben der anderen teilweise aufgedeckt worden war. Er hob Fünfzig-Lire-Stücke, Hundert-Lire-Stücke und Fünfhundert-Lire-Scheine auf. Er tat es gehetzt, voller Angst, dass jemand dazukommen und anfangen könnte, die übrigen zu nehmen. Doch er konnte niemals alle aufsammeln. Immer tauchte neues Geld auf und lag ein Stück weiter lose im Staub, aufgedeckt von dem Geld, von dem er gedacht hatte, dass es das letzte sei. Atemlos wachte er auf und konnte kaum glauben, dass

das Geld nicht echt gewesen war, ganz so, wie er es in jenen ersten Tagen im Kino im Viale Giulio Cesare kaum hatte glauben können, dass es echt war.“ (Donald Windham: Zwei Menschen, Düsseldorf 2010, S. 109). In jenem Kino hatte ihm ein Mann, dem er sich zwischen den Stuhlreihen hingegeben hatte, mehrere 100-Lire-Stücke gegeben. Als er in der Wohnung ankam, waren sie schon ausgegeben.


Bildtext: 500 Lire (Italien, ab 1958, 835er Silber, 11 Gramm, 29 mm). [Bildquelle: Amazon].


Dietmar Kreutzer


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