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Michael Kurt Sonntag

Gaia oder Demeter?


In Lampsakos, einer bedeutenden und wohlhabenden Kolonie von Phokaia am östlichen Eingang des Hellespont gelegen, prägte man zwischen 390 und 330 v. Chr. eine Vielzahl von Goldmünzen. Genauer gesagt entstanden etwa 40 verschiedene Goldstater-Typen, die allesamt im persischen Fuß (etwa 8,44 g/Stater) verausgabt wurden. Diese goldenen Statere zeigen rückseitig das Stadtwappen, eine nach rechts fliegende Pegasosprotome und vorderseitig zahlreiche unterschiedliche Bildmotive, von denen sehr viele Göttinnen und Göttern gewidmet sind. Zudem waren alle diese Goldmünzen anepigrafisch, das heißt sie trugen keinerlei Aufschriften.


Einer dieser Goldstatere – der heute extrem selten ist, da nur in zwei Exemplaren bekannt – zeigt auf seiner Vorderseite das Hüftbild einer jungen Frau fast von vorn. Diese trägt einen gegürteten Chiton und Mantel und hält in ihrer Rechten drei Getreideähren. Hinter ihrer linken Schulter befinden sich noch zwei weitere Ähren sowie eine Weinranke mit zwei Trauben. Die Rückseite ziert die nach rechts fliegende Pegasosprotome als Stadtwappen.


Lampsakos (Mysien). Stater (um 370 v. Chr.), Gold, 8,35 g, Ø 18 mm, Münzstätte Kyzikos.

[Bildquelle: Classical Numismatic Group, Triton VI (14. Januar 2003), Los 314].



Auf die Frage, um wen es sich bei der vorderseitig dargestellten jungen Frau handelt, haben Numismatiker unterschiedlich geantwortet. Während einige Wissenschaftler diese für die Erdgöttin Gaia halten, interpretieren sie andere als Demeter, genauer gesagt als Demeter Chtonia. Chtonische Gottheiten bezogen ihre Kraft aus der Erde und Demeter symbolisiert den sich jährlich wiederholenden Zyklus von Leben (Geburt) und Tod im Bereich der Ackerpflanzen speziell des Getreides. Problematisch bei der Demeter-Interpretation sind allerdings die im Münzbild gezeigten Trauben, da sie zu dieser Göttin nicht so recht passen. Schließlich wurde Demeter erst in historischer Zeit zur Ackerbaugöttin, zur Göttin des Getreides, während sich Dionysos zum Weingott entwickelte. Das Attribut der Demeter war fortan die Getreideähre und das des Dionysos der Weinstock und dessen Trauben. Vergegenwärtigt man sich zudem, dass Gaia nicht allein die Personifikation der kosmischen Erde war, sondern als Spenderin und Trägerin von Leben sowie Vegetation zu den ältesten Gottheiten überhaupt zählt, die die Griechen verehrten, dann sind Getreideähren und Trauben Attribute, die zu dieser Göttin durchaus passen. Ohnehin ist der Begriff Vegetation im Umfeld der Gaia noch allumfassend zu verstehen. Mit anderen Worten, Vegetation bei Gaia schließt nicht nur Getreide ein, sondern ebenso Feldfrüchte, Obst, Gemüse, Blumen, Gräser, Hecken, Sträucher und Bäume – die gesamte bekannte Vegetation eben.


Eine ganz ähnliche Gaiadarstellung findet sich übrigens auch auf einem heute extrem seltenen Elektronstater aus Kyzikos von 350 v. Chr. Auch dieser zeigt vorderseitig das Hüftbild einer jungen Frau mit gegürtetem Chiton und Mantel, die in ihrer gesenkten Rechten eine Weinranke mit drei Trauben hält und hinter deren linken Schulter zwei Getreideähren erscheinen.


Kyzikos (Mysien). Stater [Vs.] (um 350 v. Chr.), Elektron, 15,93 g, Ø [Höhe Vs.] 20 mm, Münzstätte Kyzikos. [Bildquelle: Griechische Münzen. Aus der Sammlung eines Kunstfreundes. Auktion am 28. Mai 1974 in Zürich, Bank Leu AG, Zürich / Münzen und Medaillen AG, Basel, Los 213, S. 300].


Unter dem Hüftbild der Gaia findet sich ein nach links schwimmender Thunfisch als Stadtwappen von Kyzikos. Die hier nicht abgebildete Rückseite ziert ein viergeteiltes Quadratum incusum. Von diesem kyzikenischen Elektronstater sind bisher drei Exemplare bekannt.


Michael Kurt Sonntag






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