„Er hieß Khalil. Doch die Leute kannten ihn nicht unter diesem Namen. Sie nannten ihn den Lahmen, so dass er seinen wirklichen Namen beinahe selbst vergessen hatte.“ (Taufik Jussuf Awwad: Der lahme Jungen, In: Kaffeeduft und Brandgeruch – Beirut erzählt, Frankfurt/Main 2002, S. 9). Mit diesen Sätzen beginnt die Erzählung „Der lahme Junge“ von Taufik Jussuf Awwad aus dem Jahr 1936. Mit seinen sozialkritischen Schilderungen aus dem gleichnamigen Erzählungsband reflektierte der libanesischen Autor (1911-1989) über die Gewalt der Zwischenkriegsjahre in den Armenvierteln von Beirut. Der 13-jährige Khalil bettelte jeden Tag mit einem traurigen Lächeln im Gesicht und einer ausgestreckten Hand, die welk wie ein Laubblatt zitterte. Seine Eltern kannte er nicht. Mit seinem lahmen Bein schleppte er sich von einem Ort zum anderen: „Wenn er einen oder einen halben Piaster erhielt, betrachtete er ihn, drehte ihn hin und her, dann steckte er ihn in die Tasche seines schmutzigen, geflickten Gewandes und humpelte weiter.“ (Ebenda, S. 10). Abends hatte er das Geld in einer Blechhütte aus Petroleumkanistern im Viertel El Chebbak abzuliefern. Dort wohnte er zusammen mit Ibrahim, einem alten „Bettler im Ruhestand“. Jeden Abend hatte er fünfzig Piaster mitzubringen. Eines Tages waren es weniger. Khalil zählte die Münzen durch, immer und immer wieder. Doch es blieben siebenundzwanzig. Er zitterte vor Angst. Für jeden bis fünfzig fehlenden Piaster würde er von Ibrahim einen Stockhieb erhalten! Genauso kam es auch: „Siebenundzwanzig Piaster vom Anfang bis zum Ende des Tages! Du spielst wohl die ganze Zeit, verfluchtes Hinkebein. Das macht dreiundzwanzig Hiebe. Eine genaue Rechnung.“ (Ebenda, S. 12).
Das alte Gran Liban gehörte bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts zum Osmanischen Reich. Als Zahlungsmittel kursierte das türkische Gold-Pfund, wechselbar in 100 silberne Piaster. Aus dieser Vorgeschichte resultiert die in Syrien und Libanon übliche Währungseinheit des Piasters. Sie wurde beibehalten, als das Osmanische Reich zerbrochen war und die Franzosen einen Teil der Region als Mandatsgebiet übernahmen: „Bei der Besetzung gegen Ende des Ersten Weltkriegs wurden die türkischen Noten vorwiegend durch ägyptisches Geld ersetzt. Im August 1920 gab die Bank von Syrien und Großlibanon (Banque de Syrie et du Grand Liban), die für jedes der Mandate eine gesonderte Pfund-Währung in Gestalt von Papiergeld schuf, zu dem jeweils gleichartige Kleinmünzen bis zum Piaster traten; nach der Franc-Stabilisierung kam jeweils noch eine Serie von Silbermünzen von 10, 25 und 50 Piaster hinzu; die Zahlungsmittel waren in beiden Mandatsgebieten gültig. Die Silbermünzen, mit denen wie mit den ähnlichen Prägungen Frankreichs, Marokkos und Tunesiens in diesen Jahren die wiedergewonnene Stabilität des Franc Poincaré gezeigt werden sollte, gingen dem Anschluss der beiden Pfund-Währungen an den Franc im festen Verhältnis von 20 Francs gleich ein Pfund einher.“ (Herbert Rittmann: Moderne Münzen, München 1974, S. 311). Größere Summen wurden mit Noten der Banque de Syrie et du Gran Liban beglichen, die bei der Banque de France gedruckt wurden. Höchstes Münz-Nominal der von den Franzosen dominierten Republik Libanon war die 1929 erstmals ausgegebene Silbermünze zu 50 Piaster. Lucien Bazor, Chefgraveur an der Monnaie de Paris, entwarf diese Münzen wie auch die damals mit gleichem Motiv geprägten kleinen Silber-Nominale zu 25 und 10 Piaster. Kleingeld zu einem, zwei und fünf Piaster aus unedlem Metall war bereits ab 1924 in Umlauf gebracht worden. Für die Entwürfe zeichneten der Medailleur Henri-Auguste Patey sowie der bereits genannte Lucien Bazor verantwortlich.
Als die Regierung verfügte, dass Betteln ab sofort verboten sei, musste sich der lahme Junge Khalil umstellen. Straßenhändler sollte er werden. „Onkel Ibrahim brachte ihm alles bei. Er besorgte ihm einen Bauchladen, verwies ihn dann an ein Süßwarengeschäft im Nasra-Viertel und trug ihm auf, dort jeden Morgen seinen Kasten mit Kuchenstücken zu füllen und als Händler in der Stadt umherzuziehen. Der Kasten fasste vier Dutzend: achtundvierzig Stück. Er kaufte sie für anderthalb Piaster und verkaufte sie für zweieinhalb.“ (Awwad, S. 14). Als der erste Tag um war, hatte er sieben Stück verkauft. Da kamen ihm auf dem Weg zur Hütte drei Jungen entgegen. Der Anführer verpasste dem kleinen Händler einen Schlag ins Gesicht. Dann plünderten die drei den Kasten mit dem Kuchen. Der wütende Ibrahim prügelte Khalil am Abend windelweich. Am nächsten Tag waren die Jungen wieder da, hämmerten mit einem Stein auf seinem lahmen Bein herum und verhöhnten ihn: Hinkebein! Hinkebein! Rechtzeitig ging Karim dazwischen, der Besitzer des Geschäfts, in dem Khalil morgens seine Ware abholte: „Steh auf. Sein unbesorgt. Ich gebe dir vier volle Dutzend und nehme keinen Piaster dafür. Ich werde dir beibringen, wie du diese Halunken besiegst.“ (Ebenda, S. 16). Tage des Trainings folgen. Immer besser gelang es Khalil nun, die barfüßigen Jungen zurückzuschlagen. Die Prügel von Ibrahim nahm er jedoch klaglos hin. Bis zu jenem Tag, an dem Ibrahim sein Auge zu zertrümmern drohte. Den Knüppel des Alten in der Hand, traf Khalil die Petroleumlampe. Sekunden später stand die Hütte in Flammen. Nur Khalil konnte sich retten: „Das Hinken wich von ihm, bis ihm schien, als begänne sein Körper bei seinem verkrüppelten Bein und ende an jenem flimmernden Stern, den die Wolken am Horizont des Himmels freigaben!“ (Ebenda, S. 25).
Der Autor Taufik Jussuf Awwad, einer der bedeutenden Autoren des modernen Libanon, verlor 1976 bei einem Bombenangriff im libanesischen Bürgerkrieg all seine Manuskripte und Aufzeichnungen. Zehn Jahre später kam er bei einem Bombenanschlag in Beirut ums Leben. #Libanon #Orient #Piaster #FranzösischesMandat #Bettler #Autor #TaufikJussufAwwad #Roman #DietmarKreutzer
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