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Dionysos - Gott der Ekstase


Kaffee oder Champagner? Apollon oder Dionysos? Das 19. Jahrhundert stilisierte Dionysos zum Gott des Rauschs, zur Inkarnation unseres Unterbewussten. Wie aber sahen die Griechen ihren Gott? Wir verfolgen diese Frage mittels einiger Münzen aus der Auktion 335 der Hess Divo AG, die am 6. Dezember 2018 durchgeführt wird.

Es ist eine spektakuläre Darstellung, die eine Tetradrachme zeigt, die in den Jahren zwischen 365 und 361 v. Chr. in der thrakischen Stadt Abdera geprägt wurde. Dionysos reitet auf einem Panther. Was heißt reitet? Er nutzt sein Reittier geradezu als eine Art Kline, als ein Ruhebett, auf dem man sich in der griechischen Antike zum fröhlichen Gelage austreckte.

Abdera. Tetradrachme, um 365-361 v. Chr. Vorzüglich. Taxe: 125.000 CHF. Aus Auktion Hess Divo AG 335 (2018), Nr. 21

Das Haupt des Dionysos ist mit Efeu bekränzt, In der rechten Hand hält er den Kantharos, in der linken den Thyrsosstab, ein mit Efeu und Weinlaub umwundener Stängel des Riesenfenchel, der von einem Pinienzapfen bekrönt wird. Seine Symbole Kantharos, Weinlaub, Thyrsos charakterisieren Dionysos als einen Gott des Weins, des (auch sexuellen) Rauschs, des „außer sich Seins“ oder – wie man in der Antike sagte – der Ekstase. Wie aber kann ein solcher Gott als Münzbild zum Identifikationsobjekt des in sich geordneten Kosmos einer Stadt werden?

Wenn wir uns das fragen, gehen wir einer Idee des 19. Jahrhunderts auf den Leim. Es war Friedrich Nietzsche, der Dionysos zum großen Gegner und Antipoden des heiteren Apoll der griechischen Polis stilisierte. „Edle Einfalt, stille Größe“, goldener Schnitt, Klassik und Klassizismus, sie hatten bis dahin im Namen Apolls den abendländischen Blick auf das antike Griechenland definiert. Für Nietzsche aber war das Natur-, das Rauschhafte (das Freud später als „Es“ definieren sollte) gleichfalls in der griechischen Antike verwurzelt. Er verband es mit Dionysos, stellte ihm das apollinische Prinzip der Harmonie gegenüber. Zwischen diesen beiden Polen müsse jeder Mensch seine Position auspendeln. Nur durch den Konflikt und das Zusammenspiel sei Kultur überhaupt möglich.

Dies ist eine durchaus nachvollziehbare Schlussfolgerung. Immerhin hatte Nietzsche seit 1869 eine außerordentliche Professur für klassische Philologie an der Universität Basel inne. Er wusste also, wovon er sprach, auch wenn er mit seiner Schrift die Grenzen der Philologie weit überschritt und Dionysos aus seiner eigenen Zeit heraus neu definierte. Sehen wir uns deshalb an, wie die Griechen Dionysos verstanden, und warum er ihnen als ein Gott galt, der staatstragend war.

Naxos. Tetradrachme, um 461–460 v. Chr. Vorzüglich. Taxe: 100.000 CHF. Zuschlag: 145.000 CHF. Aus Auktion Hess Divo AG 329 (2015), Nr. 20

Um zunächst eines klar zu stellen. Dionysos ist nicht, wie Religionswissenschaftler noch bis ins 20. Jahrhundert behaupteten, ein den Griechen „fremder“ Gott. Seit der Entzifferung der mykenischen Schrift wissen wir, dass ihn schon die Erbauer der kyklopischen Festungen Griechenlands kannten. Allerdings sprechen viele Mythen, die sich mit diesem Gott beschäftigen, davon, dass es die Herrschenden ihm gegenüber an Ehrfurcht mangeln ließen. Dionysos wird so zu dem Gott, der sich am heftigsten darum bemühen muss, dass sein göttliches Wesen anerkannt und im Rahmen der Polis verehrt wird.

Thasos. Stater, um 540–525 v. Chr. Vorzüglich. Taxe: 7.500 CHF. Aus Auktion Hess Divo AG 335 (2018), Nr. 25

Kein Wunder, die Feiern des Dionysos würden auch heute noch die Polizei auf den Plan rufen. Neben dem unmäßigen Trinken gehörten ausgelassene nächtliche Feiern – ja, in diesem Zusammenhang entstand das Wort „Orgie“ – zum Ritus. Mit Thyrsosstab, Weinschläuchen und Kannen zogen die Gläubigen in die Natur hinaus, um sich dort im Rausch ihrem Gott zu öffnen und sich auf mystische Weise mit ihm zu vereinen. In dieser sexuell aufgeladenen Atmosphäre kam es durchaus zu mehr als platonischen Begegnungen zwischen Mänade und Satyr. Immerhin überliefert uns Euripides im Drama „Ion“, dass der jugendliche Held eine uneheliche Frucht aus einer bacchantischen Begegnung gewesen sei, genauso wie er uns in den „Bacchen“ darüber beruhigt, dass keine ehrbare Frau während des Dionysosritus der Zügellosigkeit verfallen würde.

Tanzende Mänade. Relief aus dem Theater von Italica/Spanien, augusteische Zeit. Archäologisches Museum Sevilla. Foto: KW

Der König der thrakischen Edonen, Lykurg, war auf jeden Fall abgestoßen von dem, was da im Namen eines Gottes geschah. Er soll Dionysos samt seinen Anhängerinnen mit einem Ochsenziemer aus dem Land getrieben haben. (Aischylos unterstellte dem König sogar, das Bier dem Wein vorgezogen zu haben!)

Eine andere Überlieferung berichtet, Lykurg habe im dionysischen Rausch seine eigene Mutter vergewaltigt und sei deshalb derart von dem Kult abgestoßen gewesen, dass er Dionysos aus seinem Reich verjagte.

Mende. Tetradrachme, um 450–425 v. Chr. Vorzüglich. Taxe: 50.000 CHF. Aus Auktion Hess Divo AG 335 (2018), Nr. 29

Wie auch immer, Dionysos bestrafte Lykurg mit Wahnsinn. Er soll seinen eigenen Sohn für einen Stamm von Efeu gehalten haben. Efeu erwürgt wertvolle Bäume. Deshalb verspürte Lykurg den Drang, den Efeu zu beseitigen. Doch seine Axthiebe trafen Nase, Ohren, Finger und Zehen des Sohns, bis der durch die vielen Wunden verblutete. Der Fluch des Gottes suchte das ganze Königreich Thrakien heim. Nichts wuchs mehr, bis Lykurg bestraft war – ob von menschenfressenden Pferden gevierteilt, ob von Panthern zerrissen oder ob in Stein eingemauert, darüber streiten sich die Autoren.

Theben. Stater des Epaminondas, vor 362 v. Chr. Vorzüglich. Taxe: 7.500 CHF. Aus Auktion Hess Divo AG 335 (2018), Nr. 37

Auch Theben hatte seine eigene Verbindung mit Dionysos, nicht umsonst ist die Amphore neben dem böotischen Schild das wichtigste Motiv auf den Münzen von Theben und Orchomenos: König Minyas von Orchomenos – wie Theben ein Mitglied des Böotischen Bundes – hatte drei Töchter, die sich weigerten, Dionysos zu verehren. Dionysos strafte sie: Ihr Webstuhl sonderte plötzlich Milch und Nektar ab, Dionysos erschien ihnen als Stier, Löwe und Leopard, ja, er erschreckte die Mädchen derart, dass sie sich sofort den Mänaden anschlossen und die Älteste ihren eigenen Sohn zu Ehren von Dionysos schlachtete und verschlang.

Theben. Stater, um 440–380 v. Chr. Vorzüglich. Taxe: 1.000 CHF. Zuschlag: 2.400 CHF. Aus Auktion Hess Divo AG 332 (2017), Nr. 37

Denn Dionysos ist kein netter, kein freundlicher Gott. Er ist ein Gott der grausamen Extreme, wie sie zur gnadenlosen Natur passen. Teil seiner Riten war es, Tiere wie Böcke, Rehe oder sogar Stiere mit bloßen Händen zu zerreißen, um ihr rohes Fleisch zu essen, ein Ritus, der vielleicht nicht in seiner Ausführung, durchaus aber in seinem Gedankengut an die christliche Kommunion erinnert.

Ainos. Tetradrachme, um 400–370 v. Chr. Vorzüglich. Taxe: 50.000 CHF. Aus Auktion Hess Divo AG 335 (2018), Nr. 23

Denn das Opfertier – auf dieser Münze aus Ainos ein Ziegenbock, der vor einer Weinamphore steht, die mit Efeu bekränzt ist – symbolisierte den Gott selbst, der für die Gläubigen gestorben und wiederauferstanden war. Wir kennen den Mythos durch eine Überlieferung aus dem 5. Jh. n. Chr., als man übrigens das Opfertier längst durch Efeublätter ersetzt hatte, die die Mysten des Dionysos zerrissen und kauten. Dort erfahren wir, dass Dionysos ein Kind des Zeus und der Semele gewesen war, das von seinem Vater derart geliebt wurde, dass es auf dessen Thron sitzen und den Donnerkeil schwingen durfte. Hera war (natürlich) eifersüchtig. Sie schickte die Titanen. Diese lenkten Dionysos mit einem Spiegel ab. Als er hineinblickte, töteten sie ihn. Sie zerteilten, kochten und fraßen ihn auf. Als Zeus das bemerkte, schleuderte er seine Blitze gegen die Titanen. Und die Göttermutter Rheia erweckte das Dionysoskind zu neuem Leben.

Naxos (Kykladen). Stater, 520–490 v. Chr. Knapp vorzüglich. Taxe: 6.500 CHF. Zuschlag: 8.500 CHF. Aus Auktion Hess Divo AG 321 (2012), Nr. 130

Diese Überlieferung bildete den Kern der Dionysosmysterien. Dionysos war nämlich nicht nur ein Gott der offiziellen, städtischen Kulte. Ihm war eine Geheimreligion gewidmet, die wahrscheinlich noch wichtiger war als die Demetermysterien von Eleusis. Während diese an Eleusis gebunden waren, gab es Dionysosmysterien überall dort, wo sie ein herumziehender Priester begründet hatte. Diese Mysterien versprachen den Gläubigen ewiges Leben. Der Dionysosmyste stellte sich das Leben nach dem Tod als eine Art ewigen Hochzeitszug vor, bei dem er in rauschhafter Ausgelassenheit dem Bräutigam Dionysos folgen würde. Zum Zeichen, dass der Tote an Dionysos geglaubt habe, legte man dem Verstorbenen Spiegel ins Grab, Spiegel, wie sie das Dionysoskind in der Hand hielt, ehe es von den Titanen zerfleischt wurde.

Derveni-Krater. Das in Grab B von Derveni gefundene Mischgefäß dürfte auf den Glauben des dort Bestatteten an Dionysos hinweisen. Archäologisches Museum Thessaloniki. Foto: KW

Auch die unzähligen Darstellungen aus dem Dionysoskult, denen wir auf Sarkophagen, Gefäßen und anderen Objekten begegnen, die als Grabbeigaben eine wichtige Rolle spielten, dürften in diesen Zusammenhang gehören.

Das Dionysos-Theater von Athen. Foto: BishkekRocks

Dionysos war also zwar ein umstrittener, aber ein sehr wichtiger Gott in der griechischen Welt, dem viele Staaten einen eigenen Kult eingerichtet hatten. So natürlich auch Athen. Auch wenn Dionysos nicht auf den klassischen Münzen erscheint, besaß er in der Stadt gleich mehrere Feste: Die Anthesterien, eine Art Frühjahrsfest, mit dem die Schifffahrt eröffnet wurde, die Lenaien, in denen das Keltern des Weins im Mittelpunkt stand, und natürlich die Oreibasia, bei denen die Frauen von Athen alle zwei Jahre ins Gebirge zogen, um das schlafende Dionysoskind zu wecken.

Für uns am Wichtigsten wurden die Dionysien. Sie schenkten uns das Schönste, was die griechische Literatur hervorgebracht hat, die Dramen des Aischylos, des Sophokles und des Euripides, die bis heute in immer wieder neuen Inszenierungen aufgeführt werden und ihr Publikum tief berühren.

Wie wichtig die Aufführungen im Dionysostheater für das Gemeinschaftsgefühl der Athener Bürger gewesen sein müssen, können wir von den Medien überfluteten Menschen kaum noch nachvollziehen. Die moralische Botschaft der Theaterstücke muss überall Gesprächsthema gewesen sein. Die Identität der Bürger, ihre Ideale und ihr Rechtsempfinden schulte sich an den Theateraufführungen im Rahmen des Dionysoskults. Und das übrigens nicht nur in Athen, sondern in allen Städten der griechischen Welt, die über ein Theater verfügten.

Seleukos I. Tetradrachme, Susa, 305–295 v. Chr. Vorzüglich. Taxe: 2.500 CHF. Zuschlag: 4.000 CHF. Aus Auktion Hess Divo AG 328 (2015), Nr. 65

Dionysos war also ein staatstragender Gott. Nicht umsonst bezeichneten sich antike Herrscher immer wieder und gerne als „Neos Dionysos“. So stellt Seleukos Alexander den Großen mit einem Helm dar, der mit einem Pantherfell überzogen ist – einem Panther wie dem, auf dem der Dionysos unserer ersten Münze reitet.

Ob Dionysos allerdings schon in der Antike als der große Antagonist Apollons galt? Vielleicht machen wir uns da ein zu idealistisches Bild von dem delphischen Gott der Erkenntnis. Immerhin erschießt Apollon den Python, um Delphi selbst zu übernehmen, er schlägt das griechische Heer vor Troia mit der Pest und vernichtet die Kinder der Niobe in einem wahren Racherausch. Sein Verhalten zeugt von keinem fundamentalen Gegensatz zu Dionysos.

Kein Gegensatz also, aber eine Botschaft. Die Mythen um Dionysos sprechen davon, dass die Ekstase, das rauschhafte Feiern von Leben, Sexualität und Fortpflanzung zum Dasein gehören, dass all das seinen Platz haben muss, um das Menschsein als Ganzes auszuschöpfen.


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