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Michael Kurt Sonntag

Wer ist der Wagenlenker und was war der Anlass dieser Münzprägung?

Ende des 5. Jahrhunderts v. Chr. prägte die antike griechische Polis Akragas auf Sizilien Dek-adrachmen von außerordentlicher künstlerischer Qualität. Diese äußerst seltenen Münzen – bis heute sind nur 8 Exemplare auf uns gekommen – zeigen auf ihren Vorderseiten einen fast völlig nackten jugendlichen Wagenlenker in einer überaus bewegten Quadriga nach links fahrend und nennen die Aufschrift AKRAGAS. Auf den Rückseiten sehen wir zwei Adler – den vorderen mit geschlossenen Schwingen und erhobenem Kopf und den hinteren mit gesenktem Kopf und geöffneten Schwingen – auf einem „geschlagenen“ Hasen stehend, der wiederum auf einem Stück Fels liegt.

Akragas (Sizilien): Dekadrachmon (um 408-406 v.Chr.), Silber, 43,22 g, 41,1 mm. Bildquelle: Peter Robert Franke, Max Hirmer, Die Griechische Münze, Hirmer Verlag, München 1964, Tafel 62 und 63.

Da über der Quadriga ein Adler fliegt und unter ihr eine Krabbe liegt und die Quadriga selbst nicht über eine Bodenlinie fährt, äußerte J. K. Jenkins die Vermutung: „Hier, so scheint es, war des Künstlers Absicht den Wagen des Helios, des Sonnengottes, wiederzugeben, wie er bei seiner täglichen Reise durch den Himmel eilt. Das hat man durch einen einfachen, aber glänzenden Kunstgriff erreicht, indem man kurzerhand die normale Grundlinie wegließ, so dass die Pferde durch die Luft zu eilen scheinen. ... [zudem] hat man den Rädern eine besondere Neigung gegeben, um so den durch die Haltung der Pferde vermittelten Eindruck zu verstärken.“ (G. K. Jenkins, Harald Küthmann, Münzen der Griechen, München 1973, S. 190).


Zugegeben, eine überaus interessante Interpretation, die allerdings längst nicht alle Numismatiker teilen, zumal Helios durch keinen Strahlenkranz gekennzeichnet ist und die fehlende Bodenlinie und die Neigung der Räder somit die einzigen Hinweise auf die tägliche Reise des Sonnengottes durch den Himmel sind. Außerdem, so Léon Lacroix (1982), sieht die Quadriga, seiner Ansicht nach, nicht aus, als würde sie steigen, so wie dies die Quadriga des Helios für gewöhnlich auf Vasenmalereien tut, weswegen er auch den Fahrer nicht mit Helios gleichsetzt, sondern mit dem Flussgott Akragas. Der in Menschengestalt lenkende Flussgott sei überdies auch namentlich genannt, da die Aufschrift AKRAGAS im Nominativ stehe und sich folglich auf ihn beziehe.


Eine Ansicht, die im übrigen, bereits Théodore Reinach 1894 vertrat. Die neueste Forschung um Oliver Hoover und Ulla Westermark dagegen, legt sich diesbezüglich nicht mehr fest, sondern spricht stattdessen bloß von „Youth driving fast quadriga left“ [Jüngling, schnelle Quadriga nach links fahrend] (O. Hoover, Handbook of Coins of Sicily, Lancaster/London 2012, S. 29) oder von „fast moving quadriga galloping left driven by youthful, male charioteer“ [schnelle Quadriga nach links galoppierend, von jugendlichem, männlichen Wagenlen-ker geführt] (U. Westermark, The Coinage of Akragas c. 510-406 BC, Bd. II., Uppsala 2018, S. 198).


Uneins war sich die Fachwelt aber auch bezüglich des Anlasses dieser Dekadrachmenemission und ihrer Prägezeit. Während Head, Seltman, Jonkees, Kraay und Jenkins diese Münzen mit dem Sieg des Akragantiners Exainetos bei den olympischen Spielen von 412 v.Chr. in Verbindung brachten, sie sozusagen zur heimischen Siegesprägung erklärten und sie zwi-schen 412 und 410 v. Chr. datierten, datierte sie Leo Mildenberg in die Zeit um 410–408 v. Chr. und erklärte dazu: „Allgemein wird angenommen, dass die großen Stücke dort nicht vor 411 geprägt wurden. Dabei suchte die frühere Forschung nach besonderen Anlässen für Dekadrachmen-Prägungen, während wirtschaftliche Notwendigkeiten unbeachtet blieben.“ (Leo Mildenberg, in: Le Rider et al. [Hrsg.], Kraay-Mørkholm Essays, Über Kimon und Euaine-tos im Funde von Naro, Louvain-La-Neuve 1989, S. 186).


Und auch Numismatiker wie Maria Alföldi, Oliver Hoover und Ulla Westermark rücken die wirtschaftliche Notwendigkeit für die Ausgabe dieser Dekadrachmen in den Vordergrund und erklären diese Prägungen zu Notgeldemissionen aus der Zeit kurz vor und während des karthagischen Feldzugs, der Akragas schließlich 406 v. Chr. zerstörte, und nennen die Jahre 409–406 v. Chr. (Hoover) oder 408-406 v. Chr. (Westermark) als ihren Prägezeitraum. Für diese nur kurzlebige Münzproduktion spricht laut Westermark auch die Tatsache, dass alle bis heute bekannten Münzen nur aus fünf Stempeln (2 Vorder- und 3 Rückseitenstempeln) stammen.


Doch es ist nicht allein die große Seltenheit, die diese Dekadrachmen so herausragend machen, sondern ebenso die Tatsache, dass sie sowohl von ihrer Komposition als auch von ihrem Stil her zum Schönsten und Eindrucksvollsten gehören, was die antike griechische Numismatik je hervorgebracht hat.

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