Wer Löwen beim Jagen beobachtet hat, in Tiersendungen und Naturfilmen beispielsweise, dem ist sicherlich aufgefallen, dass es eigentlich die Löwinnen sind, die jagen und das Rudel mit Fleisch versorgen. Der männliche Löwe jagt nur, wenn er muss, d. h. wenn es ohne ihn nicht geht. Dies ist zweifellos immer dann der Fall, wenn das Beutetier besonders groß und schwer ist. Denn ein männlicher Löwe ist größer als ein weiblicher und mit bis zu 250 kg, gut doppelt so schwer wie eine Löwin und dementsprechend kräftiger und bedrohlicher. Ein Löwe partizipiert also erst dann an einer Jagd, wenn es sich um Beutetiere wie z. B. Bullen oder Büffel handelt, die schwer, stark und sehr gefährlich sind. Dabei springt er seinem Opfer auf den Rücken und versucht es anschließend zu Boden zu reißen, während die Weibchen dem Beutetier an die Gurgel gehen, um ihm die Luft abzuschnüren und es so schließlich zu töten.
Nun können wir Löwen, die einen Stier reißen, bereits auf antiken griechischen Münzen des 6. und 5. Jahrhunderts v. Chr. bestaunen. Vor allem aus dem makedonischen Akanthos begegnen uns Tetradrachem aus der erwähnten Zeit, die auf ihren Vorderseiten einen männlichen Löwen zeigen, der einem Stier aufspringt, diesen in die Knie zwingt und ihn in die Kruppe beißt.
Zugegeben, sehr eindrucksvolle Münzmotive, die von der ungeheuren Kraft und Wucht eines derartigen Löwenangriffs Zeugnis ablegen. Aber wie realistisch sind sie? Wäre ein Löwe, der so angreift, erfolgreich und würde ein Löwe einen wilden Stier oder Auerochsen, seine antiken „Beuterinder“, überhaupt in der gezeigten Art und Weise attackieren? Nun, vergegenwärtigen wir uns zunächst einmal, welches die stärksten und gefährlichsten Waffen der beiden „Gegner“ sind: Beim Löwen sind es zweifellos seine kräftige Muskulatur an Schultern, Beinen und Pranken, seine langen, gekrümmten, messerscharfen Krallen und seine kräftigen Kiefer und beim Stier sind es sein muskulöser Oberkörper, seine kräftige Nackenmuskulatur, seine großen und spitzen Hörner, sein massiger harter Schädel und seine Bereitschaft, Muskulatur, Schädel und Hörner bei Gefahr auch konsequent einzusetzen.
Da die schwächste Stelle des Löwen allerdings sein ungeschützter Unterkörper bzw. Bauch ist, ist ein Angriff, bei dem er diese Weichteile dermaßen nah an die gefährlichen Hörner des Stiers heranlässt, wie auf den Münzen zu sehen, sehr unwahrscheinlich. Ein kurzer kräftiger Schlag mit einem solchen Horn könnte den Löwen nämlich entweder töten oder lebensgefährlich verletzten. Aus diesem Grund wird ein Löwe, der wilde Rinder bzw. Stiere jagt, instinktiv nicht von vorn, sondern stets von hinten auf den Stier aufspringen und versuchen ihn so zu stoppen und zu Boden zu reißen. Den Würgebiss erledigen dann bei einer Rudeljagd die Weibchen und bei einer Jagd nicht-territorialer junger Männchen, ein anderes Männchen. Mit anderen Worten, ein Löwe agiert instinktiv klug, geht keine lebensgefährlichen Risiken ein und setzt nach Möglichkeit auf eine perfekt koordinierte „Teamarbeit“.
Aber weshalb wählten die antiken Stempelschneider dann ein doch eher unrealistisches Bildmotiv. Ehrlich gesagt, wir wissen es nicht. Es könnte sein, die Stempelschneider kannten eine Löwen-Stierjagd nur vom Hörensagen Dritter, die den Löwen zum absolut unerschrockenen, draufgängerischen Jäger stilisierten und den Stier als vergleichsweise leichte Beute beschrieben. Sehr viel wahrscheinlicher aber ist es, dass sie der Jagdszenerie möglichst viel Dynamik, Spannung und Dramatik verleihen wollten und gar nicht so sehr an der Abbildung realer Jagdverhältnisse interessiert waren. Für sie war der Löwe als König der Tiere der absolut imposante Jäger und Gewinner, der stark, unerschrocken und tapfer seine Beute in die Knie zwingt und mit einem gewaltigen Biss erledigt.
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