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Michael Kurt Sonntag

Die Hybris des Marsyas

Der antiken Mythologie zufolge soll die Göttin Athena bei Kelainai (Apameia am Meandros in Phrygien) die Doppelflöte (griechisch Aulos) erfunden haben. Zunächst gefielen ihr das neue Instrument und die Töne, die es hervorbrachte. Nachdem sie jedoch eines Tages ihr Spiegelbild beim Flötenspiel in der Wasseroberfläche eines Sees betrachtet hatte, warf die eitle Göttin die Flöte entsetzt zu Boden, da diese beim Spielen ihr Gesicht entstellte. Gleichzeitig verfluchte sie jeden, der es wagen sollte, jemals wieder auf diesem Instrument zu musizieren. Marsyas, der phrygische Flussgott, dargestellt als Satyr oder Silen, fand die Flöte, nahm sie an sich und spielte so virtuos darauf, dass er zum einen schon bald als Entdecker des Flötenspiels galt und zum anderen so frevelhaft übermutig wurde, dass er sich dazu entschloss, damit den berühmten Gott der Musik, Apollon, im Wettstreit herauszufordern. Schiedsrichter im Wettstreit sollten die Musen, die Göttinnen der Künste, sein. Da die Musen zunächst Marsyas als Sieger ansahen, schlug Apollon vor, der Musizierende solle sein Instrument umdrehen und zu diesem auch singen. Weil Marsyas die Flöte aber weder umdrehen noch dazu singen konnte, Apollon dagegen wunderbar zu seinem Kitharaspiel sang, erklärten die Musen schließlich Apollon zum Sieger. Zur Strafe für seine ungeheuerliche Hybris, einen olympischen Gott herausgefordert zu haben, ließ Apollon Marsyas an einen Baum hängen und von einem Skythen schinden. Doch diese schrecklich brutale Strafe Apollons erschütterte alle aus dem Umfeld des Marsyas bis ins Mark und führte zu einem Meer von Tränen, aus dem schließlich der Fluss Marsyas entsprang. „Marsyas beweinten die Götter der Wälder, die ländlichen Faune, dazu seine Brüder, die Satyrn, und sein Schüler Olympos […]; auch die Nymphen weinten und jeder Hirt, der auf jenen Bergen wollige Herden und Hornvieh weiden ließ. Nass wurde die fruchtbare Erde; doch durchnässt noch fing sie die fallenden Tränen auf und sog sie ein in ihre innersten Adern. Sobald sie sie in Wasser verwandelt hatte, sandte sie sie wieder nach oben. Daher führt Phrygiens klarster Strom, der zwischen steilen Ufern zum brausenden Meer fließt, den Namen Marsyas.“ (Gerhard Fink [Hrsg./Übers.]: Ovid: Metamorphosen, Zürich 2004, 6, 393 ff.). Diodor zufolge soll diese grausame Tat Apollon aber schon bald gereut haben. „Nachdem nämlich Apollo, der in diesem Streit gesiegt, den Überwundenen allzu schwer hatte büßen lassen, reute es ihn und er riss die Saiten von der Zither [Kithara] ab und enthielt sich für einige Zeit dieses Spiels.“ (Julius Friedrich Wurm [Übers.]: Diodor´s von Sizilien historische Bibliothek, Stuttgart 1831, 5, 75).


Übrigens, zur Schutzgottheit von Kelainai (Apameia am Meander) soll Marsyas 268 v. Chr. aufgestiegen sein, als er die Stadt vor einem Angriff der keltischen Galater geschützt habe, so der antike griechische Schriftsteller Pausanias.


Sieht man einmal von den griechischen Münzausgaben der römischen Kaiserzeit ab, so ist der flötende Marsyas in der antiken griechischen Numismatik nur auf Münzen des 2./1. Jahrhunderts v. Chr. von Apameia am Meandros anzutreffen. Er erscheint dabei lediglich auf Kleinbronzen, die auf ihrer Vorderseite den Kopf der Tyche-Artemis mit Mauerkrone und geschultertem Köcher sowie Bogen tragen und auf ihrer Rückseite den Doppelflöte blasenden Marsyas zeigen. Dieser ist bis auf seine Nebris (Fell eines Hirschkalbs) völlig nackt und schreitet auf einem kurzen Meanderband nach rechts.

Apameia am Meander (Phrygien): Kleinbronze (um 57-54 v. Chr.), Bronze, 4,53 g, Ø 18 mm. [Bildquelle: Classical Numismatic Group, Electronic Auction 281 (20. Juni 2016), Los 121].

Die Münzlegende der abgebildeten Münze lautet: APAME[ON] - ATTALO[Y] / BIANOR[OS] ([Münze] der Apameier / [Amtszeit] des Attalos [Sohn] des Bianor). Das kurze Mäanderband wiederum, auf dem Marsyas schreitet, signalisiert, dass es sich hier zweifelsfrei um die Stadt Apameia am Mäander in Phrygien handelt und nicht etwa um Apameia am Orontes in Syrien.


In der bildenden Kunst wird die Schindung des Marsyas jedoch nur selten so drastisch und explizit gezeigt wie auf dem gleichnamigen Gemälde des italienischen Hochrenaissance-Malers Tizian.

„Die Schindung des Marsyas“ (um 1570-1575). Gemälde von Tizian (1490–1576). Standort: Erzbischöfliches Palais, Kremsier, Tschechien. [Bildquelle: Wikimedia Commons].

Umgeben wird das grausame Geschehen von einem musizierenden Jüngling (dem Schüler des Marsyas Olympos?), einem Eimer tragenden Satyr, vom sitzenden und traurig dreinblickenden König Midas sowie einem kleinen Jungen und zwei Hunden. Das Ungewöhnlichste an diesem Werk ist allerdings nicht die eindringlich gezeigte Schindung – eine solche findet sich bereits auf einer Vorzeichnung von G. Romano, einem Meisterschüler Raffaels –, sondern die Tatsache, dass der Gott der Musik (links unten im Bild) hier selbst Hand anlegt und sich nicht würdevoll zurückhält, um die blutige Prozedur ganz allein dem Skythen zu überlassen. #AntikeMythologie #Marsyas #Flussgott #Skythe #Nymphe #Zither #Flöte #Schändung #Tizian #Apollo #Kleinbronze #MichaelKurtSonntag


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