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Frühe Kriminalerzählungen: Die Münze als Schlüssel


Kriminal-Anthologie mit Storys über einen gefälschten Morgan-Dollar und „durchlochte Denare“

Bildquelle: Portal Booklooker

„Wie besteht der Künstler in einer Welt der Bildung, der Analphabeten? Eine Frage, die mich bedrückt, auf die ich noch keine Antwort weiß. Vielleicht am besten, indem er Kriminalromane schreibt, Kunst da tut, wo sie niemand vermutete?“ Dieses Zitat von Friedrich Dürrenmatt ist dem Band Der geheimnisvolle Reisende (Ost-Berlin, 1981) vorangestellt worden. Die Anthologie versammelt Kriminalerzählungen von E. T. A. Hoffmann (1776–1822) bis zu Georges Simenon (1903–1989). Erzählungen, die sich mit Verbrechen beschäftigen, finden sich bereits in der griechischen Sagenwelt, später bei Shakespeare oder in der deutschen Klassik. Der Franzose Gayot de Pitaval gab 1734 eine berühmte Sammlung von Kriminalfällen heraus. Begründer der Detektivgeschichte ist jedoch Edgar Allan Poe. Der Doppelmord in der Rue Morgue, veröffentlicht im Jahr 1841, enthält bereits alle wesentlichen Elemente des späteren Genres. In der Vorbemerkung zu der oben genannten Anthologie wird auch die Frage aufgeworfen, was das Genre so beliebt macht. Die Frage ist nie endgültig beantwortet worden. Der Schriftsteller B. Traven konstatierte vor etwa 100 Jahren in seinem Mahagoni-Zyklus, dass nur die Gelangweilten dem Schauder der Gewalt erliegen. In seinem Caoba-Zyklus waren es die wohlhabenden Gutsbesitzer, die sich am Kamin an den Gewalttaten in den Mahagoni-Wäldern ergötzten. Die Fronarbeiter vor Ort, die täglich von diesen Zuständen bedroht wurden, mieden die Schauergeschichten. Die Frage nach dem Reiz des Kriminellen stellt sich immer wieder neu, gerade heute, da Kriminalromane das meistgelesene belletristische Genre zu sein scheinen – und Krimi-Serien wie Tatort und Polizeiruf vermeintlich in einer Endlos-Schleife über die Mattscheiben flimmern.

Morgan-Dollar (Vereinigte Staaten von Amerika, Designer: G. Morgan, 1900, Silber, 26,7 Gramm)

Bildquelle: Numismatic Guaranty Corp.

O. Henry (1862–1910): Eines Dollars Wert

Der US-amerikanische Autor O. Henry arbeitete zunächst als Drogist. Später schrieb er Kurzgeschichten. Seine Sympathie gehörte den einfachen Leuten, die sich in einem kriminellen Umfeld zu bewähren hatten. Der Begriff „Bananenrepublik“ entstammt einem seiner Werke. Seit 1919 wird jährlich der O.-Henry-Preis für Kurzgeschichten vergeben. In der nachfolgend zusammengefassten Geschichte bedroht ein freigekommener Verbrecher jenen Distriktsanwalt Littlefield, der ihn einst ins Gefängnis brachte. Littlefield ignoriert jedoch die Drohung. Stattdessen wendet er sich einem Fälscherprozess zu: „Kilpatrick, der Deputierte, brachte den falschen Dollar und überreichte ihn dem Distriktanwalt in seinem Amtsbüro. Der Deputierte und ein angesehener Apotheker konnten beschwören, dass Ortiz mit diesem Dollar eine Flasche Medizin bezahlt hatte. Die Münze war eine armselige Fälschung, weich, von mattem Aussehen, und bestand hauptsächlich aus Blei.“ (S. 384) Eine Freundin des Angeklagten bat den Anwalt um Nachsicht. Der Angeklagte habe mit dem Falschgeld eine lebensnotwendige Medizin für sie beschafft. Der Anwalt zuckte mit den Schultern. Am Nachmittag, also wenig später, begab er sich mit seiner Braut auf einen Jagdausflug. Unterwegs lauerte ihm Mexico-Sam auf, der rachsüchtige Verbrecher. Mit den Schrotladungen der Jagdbüchse konnte Littlefield seinem Gegner nicht Paroli bieten. Da erinnerte er sich an die beschwörenden Worte, die er vor wenigen Stunden von der Frau des Geldfälschers gehört hatte: „Wenn das Leben des Mädchens, das du liebst, je in Gefahr kommt, dann erinnere dich an Rafael Ortiz!“ (S. 386) Littlefield zückte sein Taschenmesser. Wenige Minuten später blitzte die Schrotflinte unter einem heftigen Knall auf. Mexico-Sam seufzte, drehte sich um seine eigene Achse und rutschte vom Pferd. Als der Deputierte tags darauf den aufgebahrten Leichnam des Verbrechers inspizierte, fragte er Littlefield, wie eine Schrotladung solche Wunden reißen könne. „Ich erschoss ihn“, antwortete der Distriktanwalt, „mit Beweisstück A aus ihrem Fälscherprozess. Ein wirkliches Glück für mich – und für noch jemand anderen -, dass es wirklich so schlechtes Geld war! Es ließ sich sehr nett in Kartätschenbrocken zerschneiden.“ (S. 391) Der Prozess wegen Falschmünzerei wurde eingestellt.

20 Francs (zeitgenössisch auch als Napoleon bezeichnet, Frankreich, 1890, Gold, 6,4 Gramm)

Bildquelle: Comptoir des Monnaies

Arthur Conan Doyle (1859-1939): Die Liga der Rothaarigen

Der Schotte Arthur Conan Doyle reiste zunächst als Schiffsarzt in die Arktis und nach Westafrika. Seit 1883 wandte er sich zunehmend der Schriftstellerei zu. Er verfasste Sachbücher, historische Romane und Detektivgeschichten. Sherlock Holmes und Doktor Watson, sein 1887 erfundenes Detektiv-Gespann, erlangte Weltruhm. Die hier im Extrakt nacherzählte Geschichte beginnt mit einem Besuch von Mr. Jabez Wilson im Haus des Meisterdetektives Holmes. Der Besucher, Inhaber einer schlecht gehenden Pfandleihe, hatte einen gut bezahlten Nebenjob angenommen. Für einfache Abschriften aus der Encyclopaedia Britannica wurde er einige Wochen lang fürstlich entlohnt: „Am Sonnabend zahlte mir der Manager vier Gold-Sovereigns für die Arbeit der Woche. Genauso war es in der nächsten Woche und der darauffolgenden.“ (S. 323) Nach Zahlung von 32 Sovereigns versiegte der Geldstrom aber plötzlich. Ein Schild an der Tür des Arbeitgebers, der Liga der Rothaarigen, verkündete die Auflösung der Gesellschaft. Nach einem Termin vor Ort begeben sich Holmes und Watson in Begleitung von Scotland Yard zum Tresorraum der Citybank, nahebei der Pfandleihe von Jabez Wilson gelegen. Dort erklärt Mr. Merryweather, der Direktor der Bank, die Situation.

„Es ist wegen unseres französischen Goldes“, flüsterte der Direktor. „Wir sind mehrmals davor gewarnt worden, dass ein Anschlag darauf verübt werden könnte.“

„Auf ihr französisches Gold?“

„Ja. Vor einigen Monaten hatten wir die Gelegenheit, unsere Geldmittel zu vermehren. Wir liehen uns zu diesem Zweck von der Bank von Frankreich dreißigtausend Napoleon, zwischen Bleifolien verpackt. Unsere Goldreserven sind im Augenblick viel umfangreicher als gewöhnlich in einer Filiale aufbewahrt werden, und die Direktoren hatten deshalb schon große Befürchtungen.“ (S. 333)

Nach einer Stunde vergeblichen Wartens im Dunkeln ist ein Geräusch unter den Steinplatten zu hören. Einer der Steine kippt seitlich weg. Aus einem quadratischen Loch in dem Tresorraum tastet sich eine Hand nach oben. Sofort ist Sherlock Holmes zur Stelle: „Es ist zwecklos, John Clay. Sie haben keine Chance mehr.“ (S. 335) Nach der Festnahme von Clay, einem gesuchten Schwerverbrecher, erklärt Holmes seinem Mitstreiter die Zusammenhänge. Der Nebenjob für Pfandleiher Wilson war nur eine Finte, um an das Gold zu gelangen. Während Wilson seiner Schreibarbeit nachging, gruben Clay und sein Kumpan von dessen Haus aus einen Tunnel zu der Bankfiliale.

Hemiobol (Königreich Makedonien, Alexander III. der Große, 325–310 v. Chr., Bronze, 7,1 Gramm)

Bildquelle: Numista, BNF

Lew Schejnin (1906-1967): Die durchlochten Denare

Der sowjetische Schriftsteller Schejnin war von 1923 bis 1950 bei der Kriminalpolizei tätig. Den Stoff für seine späteren Erzählungen schöpfte er aus der Arbeit als Untersuchungsrichter. Die hier wiedergegebene Erzählung spielt in den Anfangsjahren der Sowjetunion. Diebe waren in die Wohnung des Volkskommissars S. eingedrungen. Neben zahlreichen Haushaltsartikeln raubten sie einen Lederkoffer mit antiken Münzen, die jener im Lauf vieler Jahre gesammelt hatte. Der erboste Volkskommissar verpflichtete das Moskauer Polizeiamt, die Münzen in drei Tagen wiederzubeschaffen: „Er sei ein Numismatiker, der sein Leben lang alte Münzen gesammelt habe. Seine Sammlung sei von ungewöhnlichem Wert. In ihr hätten sich sogar durchlochte Denare aus der Zeit Alexanders von Makedonien befunden.“ (S. 504) Derartige Münzen gab es zur Zeit von Alexander III. allerdings noch gar nicht. Bei den vermissten Bronze-Prägungen dürfte es sich also vielmehr um Oboloi gehandelt haben. In ihrer Not konsultierten die Polizeibeamten den Admiral, einen ehemaligen Kriminellen aus der Odessaer Unterwelt. Nach Ablauf von 48 Stunden bestellte der Admiral die ermittelnden Beamten in ein Restaurant. Der junge Untersuchungsrichter und Nikolai Filippowitsch Ossipow, Leiter der ersten Brigade der Polizeistelle, machten sich sofort auf den Weg. Mit seinen Beziehungen in die Unterwelt schien es dem Admiral tatsächlich gelungen zu sein, das Diebesgut aufzutreiben. Er ließ die Verschlüsse einer Ledertasche aufschnappen. Im Inneren lagen die Münzen, sauber aufgereiht in Spezialfächern: „Wir betrachteten sie. Es waren rund 200 Stück. Alle aus Kupfer, mit Grünspan und Patina des Alters überzogen, kleine und große Stücke mit aufgeprägten Stieren und Schlangen, Adlern und Steinböcken, Sphinxen und Kaninchen.“ (S. 520) Der Eigentümer war zufrieden. Wie es gelungen war, an die Münzen zu gelangen, berichtete der Admiral erst viele Jahre später. Er sei einfach ins Puschkin-Museum gegangen. In der numismatischen Abteilung habe er die Prägungen aus der Zeit Alexanders genau inspiziert: „Ich danke den lebenden und bekannten Meistern, die unsere wunderbare Zeit prägen … und die so abgegriffene Münzen umprägen wie mich. Ein Hoch auf unsere Zeit und unsere Menschen, Genosse Staatsanwalt!“ (S. 527)

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