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Minotauros oder Io?


Der antiken griechischen Mythologie zufolge floh Phrixos vor den Nachstellungen seiner Stiefmutter Ino auf einem goldenen Widder in das Land Kolchis. Dieses an der Ostküste des Schwarzen Meeres gelegene Land – das heutige Georgien –, wurde von König Aietes regiert. In Kolchis angekommen, opferte Phrixos den goldenen Widder dem Zeus und schenkte das Goldene Vlies König Aietes. Jason und seine Argonauten entwendeten später das besagte Vlies mit Hilfe Medeas, der zauberkundigen Tochter des Königs Aietes und brachten es nach Iolkos in Griechenland.

„Jason bringt Pelias das Goldene Vlies“. Apulischer rotfiguriger Kalyx-Krater (um 330-240 v. Chr.). Standort: Louvre-Museum, Paris. Bildquelle: Marie-Lan Nguyen, Wikimedia Commons.

Historisch betrachtet, soll Phasis, die Hauptstadt des legendären Kolchis, vermutlich um die Mitte des 6. Jahrhunderts v. Chr. von ionischen Griechen aus Milet als Emporion (Handelsposten) gegründet worden sein. Nachdem Phasis durch regen und erfolgreichen Handel mit den einheimischen Kolchiern zur Stadt geworden und zu einigem Wohlstand gekommen war, wurde es um 480 v. Chr. zusammen mit dem Rest von Kolchis dem achaimenidischen Perserreich einverleibt. Allerdings besaß die Stadt ein Münzrecht und emittierte zwischen 480 und 450 v. Chr. Billon-Statere – Billon ist eine Silberlegierung mit weniger als 50% Feinsilber – im persischen Münzfuß (1 Stater = um 11,2 g). Diese zeigen auf ihrer Vorderseite einen nach links oder rechts lagernden Löwen mit zurückgewandtem Kopf und tragen auf ihrer Rückseite in einem vertieften Rechteck eine knieende oder eine im Knielaufschema dargestellte menschliche Gestalt mit Stierkopf.


Phasis (Kolchis). Stater oder Doppelsiglos (um 480-450 v. Chr.), Billon, 10,40 g, 22,3 mm, Münzstätte Phasis. Bildquelle: Peter Robert Franke, Max Hirmer, Die griechische Münze, Hirmer Verlag, München 1964, Tafel 196, unten.

Dass der Löwe mit zurückgewandtem Kopf milesischen Ursprungs ist, beweisen die frühen milesischen Elektronstatere, deren Löwen ähnlich gelagert sind und die ebenfalls alle rückwärts blicken.


Milet (Ionien). Stater (um 546-530 v. Chr.), Elektron, 13,87 g, 22 mm, Münzstätte Milet. Bildquelle: Numismatik Naumann, Auktion 82 (6. Oktober 2019), Los 136.

Aber was hat es mit der „fabelhaften“ Gestalt der Münzrückseite in Abb. 2 auf sich, wen stellt sie dar? Nun, folgt man den meisten Münzkatalogen, dann handelt es sich bei dem menschengestaltigen Wesen mit Stierkopf um den Minotauros, der als Strafe für das Fehlverhalten des Königs Minos von Kreta in die Welt gesetzt worden war. Weil Minos dem Poseidon nämlich nicht seinen prächtigen, sondern einen minder wertigeren Stier geopfert hatte, bestrafte ihn Poseidon, indem er Pasiphae, die Gattin des Minos dazu brachte, sich in einen Stier zu verlieben. Das Produkt dieser ungewöhnlichen Liebe war Minotauros, ein „scheußliches“ Mensch-Stierwesen, das König Minos dann in das eigens dafür erbaute Labyrinth sperrte.


Dass man sich Minotauros in der Antike auch andernorts als Mensch mit Stierkopf vorstellte, belegen u. a. silberne Statere aus dem kretischen Gortyn. (siehe Abb. 4)


Gortyn (Kreta). Stater (um 425-360 v. Chr.), Silber, 11,93 g, 22 mm, Münzstätte Gortyn. Bildquelle: Gorny & Mosch, Auktion 224 (13. Oktober 2014), Los 816.

Nicht als Minotauros, sondern als rinderköpfige weibliche Figur („bovine-headed female figure“) beschreibt Oliver Hoover die rückseitige Gestalt aus Abb. 2 und ergänzt wörtlich: „ … a bovine-headed female figure, often discribed as the Minotaur in earlier catalogs. It has been suggested recently that the female figure may represent Io, who was turned into a heifer by Hera and driven from Asia to Europe.“ (… eine rinderköpfige weibliche Figur, in früheren Katalogen oft als Minotauros beschrieben. Es ist neulich angeregt worden, diese weibliche Figur könne Io darstellen, die von Hera in eine Färse verwandelt und von Asien nach Europa getrieben wurde.) (Oliver Hoover, Handbook of Coins of Northern and Central Anatolia, Lancaster/London 2012, S. 55 f.).


Nun, ob Io von Hera oder von Zeus in eine Färse verwandelt wurde, ist je nach Variante des Io-Mythos unterschiedlich geschildert worden. Nach Hesiod belügt Zeus Hera und behauptet, nicht mit Io geschlafen zu haben. Anschließend verwandelt er Io in eine weiße Kuh und schenkt diese Hera. Hera wiederum sperrt die Kuh in einen Hain und lässt sie vom 100-äugigen Argos bewachen. Zeus aber sendet Hermes aus, der den Argos tötet und die „Kuh“ befreit. Daraufhin setzt Hera die 100 Augen des Argos auf einen Pfauenschwanz und schickt der „Kuh“ eine Bremse, die sie über Nordgriechenland, das Ionische Meer, den Bosporos, durch Asien bis nach Ägypten hetzt, wo Zeus ihr schließlich ihre menschliche Gestalt wiedergibt. „Dort wird sie [gemeint ist Io] von Zeus durch Berührung mit der Hand oder durch Anhauchen wieder in menschliche Gestalt verwandelt und gebiert den Epaphos, von dem u. a. Libye (oder Libya) und Danaos, der Vater der Danaiden, abstammen.“ (Der neue Pauly, Enzyklopädie der Antike, Bd. 5, Sp. 1053).


Aber warum hätten die Stempelschneider Io überhaupt mit Rinderkopf darstellen sollen, wo sie doch im Gegensatz zum Minotauros nie ein menschlich-tierisches Mischwesen war? Auf Elektron-Hekten von Mytilene erscheint Io beispielsweise vorderseitig im weiblichen Dreiviertelporträt, das rückseitig mit einem Kuhkopf gekoppelt ist, um so ihre Dualität (ihre zweigestaltige Natur) zu veranschaulichen. Und auf Hekten von Phokaia sehen wir ihren Kopf im Profil mit kleinem Hörnchen, Tainie und Schläfenperlenschmuck.


Phokaia (Ionien). Hekte (1/6 Stater) (388 v. Chr.), Elektron, 2,51 g, 9,36 mm, Münzstätte Phokaia. Bildquelle: Künker, Auktion 67 (9. Oktober 2001), Los 391.

Dass man dem Io-Porträt in Phokaia ein kleines Kuhhörnchen beifügte, ist wohl der Tatsache geschuldet, dass man in Ermangelung eines Rückseitenbildes keinen Kuhkopf wie in Mytilene anbringen konnte.


Da Io zunächst nur Frau, dann nur Kuh und dann wieder nur Frau war und zu keinem Zeitpunkt ein menschlich-tierisches Mischwesen wie Minotauros, scheint die Behauptung, beim Rückseitenmotiv aus Abb. 2 handle es sich um eine Darstellung der Io, nur wenig plausibel, zumal sekundäre Geschlechtsmerkmale wie weibliche Brüste auch nicht zu erkennen sind. Und wenn man Io tatsächlich mit Rinderkopf dargestellt hätte, wie hätte man dann Minotauros zeigen sollen?

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