Wie unter Sammlern römischer Provinzial-Münzen wohlbekannt, ließ Kaiser Augustus (27 v. Chr. – 14 n. Chr.) in der römischen Provinz Syria (Syrien), genauer gesagt in deren Hauptstadt Antiocheia am Orontes, silberne Tetradrachmen schlagen, die vorderseitig sein nach rechts gewandtes belorbeertes Porträt zeigen und rückseitig die auf einem Fels nach rechts hin sitzende Tyche (Stadtgöttin) von Antiocheia mit Mauerkrone und Palmzweig abbilden. (Abb. 1.1)
Abb. 1.1: Tetradrachmon des Augustus (Jahr 28 [ΗΚ] aktischer Ära = 4/3 v. Chr.), 15,25 g, Ø 26 mm, Münzstätte Antiocheia am Orontes. [Quelle: Gorny & Mosch, Auktion 249 (11. Oktober 2017), Los 440.
Unter der Tyche ist der nach rechts kraulende Flussgott (die Personifikation des Orontes) dargestellt. Was die Münzlegenden angeht, so lautet die der Vorderseite auf "ΚΑΙΣΑΡΟΣ ΣΕ−ΒΑΣΤΟΥ" ([Münze] des Caesars Augustus) und die der Rückseite auf "ΕΤΟΥΣ ΗΚ ΝΙΚΗΣ" (Im Jahr 28 nach dem Sieg). Gemeint ist hier der Sieg des Octavian über Marcus Antonius und Kleopatra bei Actium (griech. Aktion) im Jahr 31 v. Chr. Die Ära ist folglich die Aktische (31/30 v. Chr.). Von diesem Tetradrachmon gibt es allerdings noch eine zweite motivgleiche Variante, die sich von der ersten nur durch ihre Rückseitenlegende und die Datierung unterscheidet. (Abb. 1.2)
Abb. 1.2: Tetradrachmon des Augustus (Jahr 36 [ςΛ] aktischer und 54 [ΔΝ] pharsalischer bzw. caesarischer Ära = 6 n. Chr.), 15,25 g, Ø 26 mm, Münzstätte Antiocheia am Orontes. Quelle: MA-Shops, Münzhandel G. Henzen (NL).
Denn die Rückseitenlegende lautet auf "ΑΝΤΙΟΧΕΩΝ ΜΗΤΡΟΠΟΛΕΩΣ" (Der Bürger von Antiocheia, der Hauptstadt) und die Datierung auf das Jahr 36 aktischer Ära (6 n. Chr.) und auf das Jahr 54 pharsalischer bzw. caesarischer Ära (48/47 v. Chr.). Pharsalische Ära 48/47 v. Chr. Ihr Name geht auf den Sieg Caesars über Pompejus bei Pharsalos in Griechenland (48 v. Chr.) zurück.
„Es handelt sich bei der pharsalischen Ära um eine Form der zahlreichen caesarischen Ären, die von ganz unterschiedlichen Ereignissen und Jahren ausgehen und vor allem im syrischen Raum zu finden sind. […] Nur in Antiocheia in Syrien entsprach das Epochenjahr der dortigen Ära dem eingetlichen Jahr des Sieges Caesars bei Pharsalos.“ (Wolfgang Leschhorn: Antike Ären, Stuttgart 1993, S. 224f.)
Aber weshalb stellt die sitzende Tyche von Antiocheia ihren rechten Fuß auf die rechte Schulter des Flussgottes Orontes? Hat der Künstler der Münze bzw. Stempelschneider dies nur zufällig so gestaltet oder geschah das mit Absicht? Da sich dieselbe Tyche-Pose auch auf einer römischen Skulpturengruppe aus Marmor findet, die einer noch älteren griechischen Bronzeskulptur nachempfunden wurde (Abb. 2), wird klar: Die Münzdarstellung war ebenso wenig zufällig wie jene der Skulpturengruppe.
Abb. 2: Tyche von Antiocheia am Orontes. Römische Marmorkopie nach einem griechischem Bronzeoriginal des Entychides 3. Jahrhundert v. Chr. Standort: Vatikanische Museen. Quelle: Jastrow, Wikimedia Commons.
Vergegenwärtigt man sich nämlich, dass die Tyche von Antiocheia als Stadtgöttin für das Wohlergehen der Stadt und ihrer Bürger verantwortlich war, dann müsste es auch zu ihren Aufgaben gehört haben, Bedrohungen von der Stadt fernzuhalten. Und da Flüsse in der Regel nicht nur zahm und ruhig dahinfließen, sondern bisweilen auch aufbrausen, über die Ufer treten und dann beachtliche Schäden anrichten können, ist es wichtig, sie im Zaum zu halten und ihnen rechtzeitig Einhalt zu gebieten. In Analogie dazu „bremst“ die Tyche den kraulenden Flussgott Orontes mit ihrem Fuß etwas ab, nimmt symbolisch Schwung und Tempo aus seinem Schwimmen, damit er nicht zu wild und übermutig krault und damit Schäden in der Stadt anrichtet.
Wer in der griechischen Numismatik etwas bewandert ist, weiß aber, dass die Rückseite der augusteischen Tetradrachme keine eigenständige römisch-kaiserzeitliche Schöpfung war, sondern von den Tetradrachmen Tigranes II. des Großen (95–55 v. Chr.) entlehnt wurde.
Nachdem Tigranes um 83 v. Chr. Syrien mit Antiocheia am Orontes erobert hatte, schritt er umgehend daran, eigene Münzen zu emittieren. Hierbei ließ er in Antiocheia am Orontes Tetradrachmen prägen, die vorderseitig seine Büste mit armenischer Tiara und umgebundenem Diadem und rückseitig die nach rechts auf einem Fels sitzende Tyche von Antiocheia mit darunter schwimmendem Flußgott Orontes zeigen (Abb. 3).
Abb. 3: König Tigranes II. der Große (95–55 v. Chr.). Tetradrachmon (um 83–70 v. Chr.), Silber, 15,83 g, Ø 27 mm, Münzstätte nicht näher bestimmbar in Syrien. Quelle: MA-Shops, Dvin Numismatik (CH).
Betrachtet man die Münze etwas eingehender, so erkennt man schnell, daß die armenische Tiara mit zwei gegenständigen Adlern geschmückt ist, die beide rückwärtsgewandt blicken. Zudem findet sich zwischen den Adlern ein großer achtstrahliger Stern. Abgeschlossen wird die Tiara am oberen Rand von fünf Doppelkugeln. Umgeben wird das Porträt von einem sogenannten „Eierstabkranz“. Die rückseitige Tyche wiederum trägt ein langes Gewand und eine Mauerkrone auf dem Kopf, die sie als Stadtgöttin ausweist und hält in ihrer Rechten einen Palmzweig und darunter eine Ruderpinne – letztere kommt aber nicht auf allen Münzen vor. Ihren rechten Fuß setzt sie zudem auf die rechte Schulter des unter ihr kraulenden Flußgottes Orontes. Das Ganze wird von einem Lorbeerkranz umschlossen. Die Münzlegende lautet: "ΒΑΣΙΛΕΩΣ / ΤΙΓΡΑΝΟΥ" ([Münze] des Königs Tigranes).
Gut möglich, dass die Stempelschneider des Tigranes das bronzene griechische Vorbild der in Abb. 2 gezeigten Skulpturengruppe kannten und sich sogar daran orientierten, auch wenn sie die Darstellung letztlich nicht 1:1 kopierten. Dass die römischen Stempelschneider nach den Münzen des Tigranes arbeiteten, wird deutlich, wenn man sieht, wie detailgetreu sie die Tyche-Flussgottgruppe übernahmen und dass sogar der Kopf des Augustus wie jener des Tigranes von einem Eierstabkranz umgeben wird.
Michael Kurt Sonntag
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