top of page

Goldgrube Berlin: Mit Alfred Kerr durch die Reichshauptstadt


Vor über 100 Jahren veröffentlichte der berühmte Kritiker und Essayist Alfred Kerr (1867–1948) in der Tagespresse seine „Berliner Briefe“ (Alfred Kerr: Wo, liegt Berlin? Briefe aus der Reichshauptstadt, Berlin 1997). Damit sie pünktlich in der Sonntagsausgabe in der Breslauer Zeitung erscheinen konnten, mussten sie immer Samstagmorgen in den Zug nach Breslau oder über den Telegrafen an die Redaktion gehen. Dass Geld in der aufstrebenden Reichshauptstadt eine bedeutende Rolle spielte, zieht sich wie ein roter Faden durch diese Briefe. Nach Besuch einer Plakatausstellung in der Leipziger Straße notierte Kerr am 16. Oktober 1898: „Was machen Menschen alles, um Geld zu verdienen. Wie verrenken sie ihre Glieder, wie verstellen sie ihre Stimme, wie hopsen sie auf allen vieren herum gleich einem Dachshund.“ (S. 426)

Korrespondent der Breslauer Zeitung: Alfred Kerr (1867–1948). Bildquelle: Alamy, Zeitensprünge

Betrüger & Mörder

Gleich zu Beginn seiner Tätigkeit für die Breslauer ergötzt sich Kerr an dem Betrugsfall Anna Dubberstein. Die Verkäuferin aus einem Stettiner Konfektionsgeschäft hatte sich in Berlin als Erzherzogin aus dem Haus Österreich-Este ausgegeben. Die junge Frau erleichterte mehrere Männer um ungeheure Summen. Ein Gerichtsprozess im Frühjahr 1895 brachte zutage, dass der stud. jur. Wilhelm Roloff und dessen Vater allein 150.000 Mark verloren: „Ich wollte Fürst werden“. Während einige Männer der Hochstaplerin ihren gesamten Besitzstand überschrieben, beschenkten die anderen sie mit Preziosen, die nach Tausenden beziffert wurden. Kerr sieht in dem Fall ein Stück modernster Sozialpsychologie: „Sie wohnt in der entzückend am Wasser gelegenen Corneliusstraße, in jenem feinsten Viertel, wo die Villen der Hochfinanz und des reichsten Militär- und Hochadels durcheinander in stillen Vorgärten träumen (…), sie weiß im Gothaischen Almanach Bescheid wie der Pastor in der Bibel, sie fährt in einem königlich geschmückten Wagen zum Blumenkorso und zeigt ihrem Ritter kühl lächelnd ein Zeitungsblatt, in dem sie schon beginnt, als Gaunerin betrachtet zu werden: die Person hat etwas Geniales.“ Nach der Gräfin komme eben gleich die Schauspielerin und nach dieser die Konfektionsdame: „Wenigstens in Berlin. (…) Solche Pflanzen kommen hier zu Hunderten vor.“ (S. 59)

Am 29. August 1897 berichtete Kerr über den Mord an der „Gipsschultzen“. Der Mörder (27) hatte ein sexuelles Verhältnis zu der 71-jährigen Besitzerin mehrerer Gipsgruben unterhalten. Doch damit nicht genug: „Er hat neben der greisen Freundin noch zwei häusliche Frauen. Eine ältere angetraute und eine jüngere adoptierte. Und da sich diese beiden untereinander gut vertragen, ergibt sich ein ganz allerliebstes Familienidyll. Durch solche Züge erhält ein Mord, sei es auch ein so origineller wie dieser, erst die letzte Würze für verwöhntere Zeitgenossen.“ Das 2,5 Millionen Mark schwere Mordopfer Auguste Schultze war ein Berliner Original: „Sie ging in Lumpen, schippte Schnee und sprach berlinisch. (…) Aber sie ließ sich nichts Neckendes gefallen, sie war geizig, und so zählte sie nicht zu den beliebten Originalen. Sie wäre weit beliebter gewesen, wenn sie Zehnmarkstücke verteilt hätte.“ Ihr gewerblicher Untermieter und Liebhaber, der vorbestrafte Einzelhändler Joseph Gönczi, machte ihr in räuberischer Absicht den Garaus. Auch die 51-jährige Tochter der „Gipsschultzen“ brachte er um. Die Leichen legte er seelenruhig im Keller des Hauses Königgrätzer, Ecke Bernburger Straße ab. Bald verbreitete sich ein bestialischer Gestank in dem Wohngebäude. Es musste desinfiziert werden. Die Berliner Presse schwelgte in den Details und Kerr kommentierte: „Und die Kritischen Betrachter lesen mit saftigem Behagen, dass der Held aller dieser Situationen, Herr Josef Gönczi, ein gar frommer Mann gewesen ist und jeden Morgen zur Messe in die Michaeliskirche ging.“ (S. 303ff.)

Währung & Preise

Über den Mordprozess gegen Hugo Guthmann berichtete Kerr am 23. April 1899. Einleitend ging es um die finanzielle Situation des Angeklagten: „Hugo war der feine Hugo. Er hatte immer Geld. (…) Der feine Hugo ließ sich täglich acht bis neun Mark von seinen Freundinnen geben und stand bei der kleinbürgerlichen Bekanntschaft, die es wusste, in hoher Beliebtheit. Er hatte ein Diensteinkommen von monatlich 240 bis 270 Mark – er wusste auch, warum er da war. Dabei war er nicht hochmütig, sondern verstand, mit seinen Freunden zu reden, und ließ auch was springen, denn die Verhandlung ergab, dass dieser Mitbürger in zwei Feiertagen 70 Mark verbrauchte.“ (S. 488f.) Auf so großem Fuß konnten nur ausgemachte Ganoven leben. Ein einfacher Arbeiter musste mit zwei oder drei Mark am Tag auskommen. Erst mit einem üppig bemessenen Trinkgeld wurde, so Kerr am 17. Mai 1900 über die Situation des Proletariats, der Monatslohn dreistellig: „Die Frage, ob Tischler 96 Mark verdienen oder 150 im Monat, war uns ´was Beiläufiges. Als Trinkgeld solltet ihr ja die 150 Mark haben; denn es entspricht auch der Menschenwürde, dass Arbeit ihren Lohn findet.“ (S. 591) An der Spitze der Gesellschaft, die von extremen Gegensätzen zwischen Arm und Reich gekennzeichnet war, sah es da ganz anders aus. Am 20. November 1898 bezifferte Kerr das Jahreseinkommen der Direktoren einer Elektrizitätsgesellschaft mit 40.000 bis 80.000 Mark. (S. 449) Und der erste Mann im Staate verdiente noch viel mehr. Der Etat für den privaten Haushalt des Kaisers belief sich nämlich auf stolze 16 Millionen Mark: „Ich denk‘ es mir sehr angenehm, Deutscher Kaiser zu sein. Vielleicht nicht auf die Dauer, denn man weiß ja nie, was kommt, aber eine Zeitlang.“ (S. 269)

Größte Kurantmünze im Reich: 20 Mark (Preußen, 1888, Gold). Bildquelle: Künker, FA 2017, Lot 7924

Die Währungsreform mit dem Wechsel vom Silber- zum Goldstandard ist auch am Ende des 19. Jahrhunderts noch Thema gewesen. Sie war 1871 mit der Reichsgründung infolge des Deutsch-Französischen Krieges vollzogen worden. Als im Frühjahr 1899 der „Vater des Goldstandards“ starb, notierte Kerr: „Der nächste Tote ist Ludwig Bamberger. Wir, die wir über die Goldwährung nicht entscheiden können, halten uns an die humanistischen Seiten des Mannes. Es ist eine Freude, unter unseren Politikern gelegentlich einen Kultureuropäer zu treffen. Und je seltener die Freude, umso größer ist sie. Bamberger war einer.“ (S. 479) Für Otto Arendt (1854–1936), den Wortführer der Bimetallisten, hatte er dagegen wenig übrig. Der Abgeordnete und seine Anhänger waren Gegner des reinen Goldstandards. Sie kämpften dafür, ein festes Wertverhältnis zwischen Gold und Silber einzuführen. Im Palast-Hotel könne man „den bimetallistischen Herrn Arendt“ treffen, spottete Kerr am 29. September 1895. Als er ein Jahr später die Frauenrechtlerin Lina Morgenstern traf, frozzelte er: „Sie war die Schwiegermutter des Bimetallismus. Ihre Tochter Olga ist vom Abgeordneten Arendt geheiratet worden.“ (S. 200)

Größte Scheidemünze im Reich: 5 Mark (Preußen, 1888, Silber). Bildquelle: Coinshome

Silbermünzen, sogar die kleinsten, sind zur vorletzten Jahrhundertwende noch immer als besonders werthaltig wahrgenommen worden. Wollte man aufschneiden, warf man sie ins Volk. Das legt jedenfalls eine Episode aus dem Volksmund nahe, die Kerr am 23. April 1899 über den Fürsten von Fürstenberg wiedergab: „Ei weh, in Baden-Baden, wenn er durch die Stadt fuhr, damals mit dem Prinzen von Wales; er hatte `ne Zijarrenkiste mit neugeprägte Fuffzigpfennigstücke neben sich zu stehen; denn langte er rinn und schmiss sie mang die Bevölkerung; hat sich was jetan; kannste dir denken.“ (S. 491) Was man damals für 50 Pfennig bekam? Alfred Kerr hat auch darauf eine Antwort. Ein Gedeck mit Kaffee, Kuchen und Zucker kostete einen Fünfziger. Für den gleichen Betrag pro Zuschauer konnte man sich ein Gefecht zwischen täuschend echten Schlachtschiffen auf dem See der Berliner Gewerbeausstellung von 1896 ansehen. Für höchstens eine Mark bekam man beim Kranzler ein saftiges Rumpsteak. Legte man noch etwas drauf, konnten Freunde und Verwandte komfortabel logieren: „Der edle Gastfreund aus Korinth an der Panke hat die Aufgabe, für Neumann ein Zimmer zu besorgen, möglichst im Zentrum, aber doch so, dass es nicht allzu weit von Treptow ist; zu einem soliden Preise (…), aber 1,50 M. pro Tag soll er nicht überschreiten; nach vorn heraus, aber so, dass die Sonne nicht lästig wird, namentlich in den Morgenstunden von Sieben bis Neun.“ (S. 160f.) Auf den besten Plätzen in der Philharmonie saßen die „Fünfmarkprotze“. Zum Alpenball im Krollschen Theater waren 12 Mark Eintrittsgeld und etwa 20 Mark Aufenthaltsgeld zu berappen. Und zur Eröffnung des Theaters des Westens im Herbst 1896 wurden für zwei Parkettplätze 150 Mark geboten!

Orden & Medaillen

Über das Kunstverständnis des Kaisers schüttelte der Kritiker den Kopf. Vor allem die Vergabe des Schillerpreises an Gerhart Hauptmann, gegen die Wilhelm II. wiederholt votierte, erregte sein Missfallen. Hintergrund: Der preußische Prinzregent Wilhelm hatte 1859 anlässlich des 100. Geburtstages von Friedrich Schiller „für das beste in dem Zeitraum von je drei Jahren hervorgetretene Werk der deutschen dramatischen Dichtkunst einen Preis von Eintausend Thalern Gold nebst einer goldenen Denkmünze zum Werthe von Einhundert Thalern Gold“ ausgesetzt. Der volle Preis, einschließlich der goldenen „Denkmünze“ wurde in den 54 Jahren des Preises nur sechsmal verliehen. In den übrigen Fällen ist dem Preisträger, sofern es überhaupt einen gab, lediglich die Geldsumme zuerkannt worden. Am 15. November 1896 notierte Kerr zu Gerhart Hauptmann, der endlich in die engere Wahl gekommen war: „Aber der Kaiser strich ihn von der Liste und gab dem Heinrichsdichter Wildenbruch den ganzen Preis.“ (S. 223) Für einen Monarchen, der sich am liebsten „Halali“ von Richard Skowronnek anschaute, sei das bezeichnend. Als Hauptmann drei Jahre später wieder durchfiel, wurde Kerr allmählich wütend. „Rein künstlerisch sagt Wilhelm: Ich halte das nicht für bedeutende Kunst. Diese Meinung zu haben ist sein gutes Recht. Sie nicht zu teilen, ist das Recht jedes Bürgers, ohne dass er sich straffällig macht. Wir üben dieses Recht hiermit aus. Wir sehen also in Gerhart Hauptmann den ungekrönten König.“ (S. 563) Der Preisträger habe die 3.000 Mark unverdient bekommen.

Apfelsinen- bzw. Zitronenorden: Preußische Verdienstmedaille. Bildquelle: Wikimedia, Bothferry

Noch fragwürdiger fand Kerr die Vorgänge um die preußische Verdienstmedaille, die Zentenarmedaille. Sie war 1897 zum 100. Geburtstag von Wilhelm I. gestiftet worden: „Sie wird manchem vortrefflichen Mitbürger verliehen – jetzt hat sie auch die in Schlesien rühmlichst bekannte Dichterin Friederike Kempner gekriegt -, und allein die Tatsache, dass sie ungemein häufig verliehen wird, darf sie noch nicht herabsetzen.“ In Berlin bezeichnete man den Preis wegen des gelb-orangen Bandes, an dem er befestigt war, verächtlich als Apfelsinenorden. Als sich ein Träger der Auszeichnung wegen dieser Bezeichnung beleidigt fühlte, verklagte er einen Bürger, der diese Bezeichnung ihm gegenüber verwendet hatte. Alfred Kerr sinnierte am 20. Februar 1898 voller Sarkasmus, was es bedeute, wenn die Verwendung des Spottwortes strafbar werde. „Unsere Diplomaten, die in Kiaotschau-Angelegenheiten tätig sind, werden bei der Annahme chinesischer Auszeichnungen vorsichtig sein müssen. Dort soll ein Mandarinenorden bestehen. Apfelsinenorden, Mandarinenorden – es kann leicht auch eine Unehrbietigkeit auch in der kleineren Ausgabe der obengenannten Südfrucht befunden werden. So werden unsere Bülows, wenn sie nicht gleich einen großen Drachen bekommen, auf chinesische Auszeichnungen am besten verzichten. Ob es auch ein Zitronenkreuz gibt? Vielleicht mit Pomeranzenlaub?“ (S. 363)


bottom of page