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Unerkannt durch die Armenviertel: Die Farbe des Geldes


Englische Fassung des Tatsachenberichtes In den Slums, vom Autor illustriert - Bildquelle: Rakuten kobo.

Im Sommer 1902 verbrachte der US-Autor Jack London (1876-1916) mehrere Monate im Londoner East End, in dem sich die Armenviertel der Stadt befanden. Er miete sich ein Zimmer, kaufte sich in einem Altkleidergeschäft abgerissene Kleidung. Auf der Straße und in den Wirtshäusern lernte er Menschen kennen, die für einige Schilling täglich 14 Stunden arbeiteten. Eine Wohnung war davon meist nicht zu finanzieren: „Die Miete steigt beständig. In einer Straße in Stepney ist sie im Laufe von zwei Jahren von dreizehn auf achtzehn Schilling, in einer anderen Straße von elf auf sechzehn Schilling, in einer dritten von elf auf fünfzehn Schilling gestiegen.“ (Jack London, In den Slums, München 1976, S. 101). Wenn beide Eltern arbeiteten, konnte sich eine vierköpfige Familie eine bescheidene Bleibe leisten. Jack London war dort: „Sie hatten keinen Herd und mussten sich ihr ganzes Essen auf einem kleinen Gaskocher bereiten. Da sie nichts besaßen, genossen sie nicht den üblichen Kredit für ihren Gasverbrauch, sondern mussten einen Automaten haben, der ihnen ein gewisses Quantum lieferte, so oft sie ein Penny-Stück hineinsteckten.“ (Ebenda, S. 28). Oft war das Essen noch nicht gar geworden, da war das Geld schon alle.


Britisches Pfund, Edward VII., 1902, Gold im Wert von 20 Shilling. Bildquelle: Sovereign Rarities.

Eine ganze Wohnung anzumieten, war für Alleinstehende undenkbar. Noch nicht einmal ein Zimmer war von den üblichen Einkommen finanzierbar. Viele mussten sich ihr Zimmer mit anderen Tagelöhnern teilen. „Rev. Hugh Price Hughes hat öffentlich bezeugt, dass Betten nach dem Drittelsystem vermietet werden – das heißt ein Bett an drei Mieter; jeder darf es acht Stunden benutzen, so dass es nie Zeit hat, kalt zu werden. Und selbst der Platz unter dem Bett wird nach dem Drittelsystem vermietet. Die Beamten der Gesundheitspolizei haben mehr als einmal Fälle wie den hier angeführten angetroffen: In einem Zimmer befanden sich drei erwachsene Frauen im Bett und zwei erwachsene Frauen unter dem Bett; in einem andern Zimmer lagen ein erwachsener Mann und zwei Kinder im Bett und zwei erwachsene Frauen unter dem Bett.“ (Ebenda, S. 100f.).



Lo-3: Shilling, Edward VII., 1902, Silber im Wert von 12 Pence. Bildquelle: JNCoins.

In Lumpen gekleidet, verbrachte Jack London viele Stunden mit Obdachlosen, um in die Asyle eingelassen zu werden. Dabei erfuhr er, dass die „Farbe des Geldes“ über Luxus oder Elend entschied. Die Oberschicht zahlte mit Gold, die Mittelschicht mit Silber. War man auf der Straße gelandet, wurde jedes Stück in rötlicher Bronze zu einem Schatz. Der Autor stellte sich frühzeitig darauf ein: „In die Achselhöhle meines Heizerhemdes nähte ich ein Goldstück ein – eine verhältnismäßig geringe Summe in Anbetracht des Umstandes, dass es mein letzter Notgroschen sein sollte.“ (Ebenda, S. 12). Einige Tage später musste er bereits zum ersten Mal auf diese Reserve zurückgreifen. Nach einer stundenlangen, erfolglosen Suche nach einem Nachtquartier in den städtischen Asylen sprach er einen der Obdachlosen an, mit denen er unterwegs war: „Komm und gib mir dein Messer!“ Der Mann bekam einen Schreck und weigerte sich. Erst als Jack London seinen Begleitern vom Versteck der Goldmünze im Heizerhemd erzählte, verflüchtigte sich dessen Furcht: „Das Goldstück – ein Vermögen für ihre hungrigen Blicke – rollte heraus und dann marschierten wir nach dem nächsten Kaffeehaus. (…) Sie hatten gesehen, dass ich ein Pfund Sterling in Gold besaß, und wussten also, dass ich nicht arm war.“ (Ebenda, S. 45 f.). In der nächsten Stunde erzählten sie ihre Lebensgeschichten. Demütig baten sie um Brot und Tee.


Penny, Edward VII., 1902, Bronze im Wert von 4 Farthings. Bildquelle: Wikimedia, Heritage Auctions.

Doch nicht immer entschied die „Farbe des Geldes“, das der Gast ausgab, über die Qualität seiner Behandlung. Das zeigt die folgende Passage:


„Man erlebt manches kleine Abenteuer in den Kaffeehäusern, und ich werde kaum die echte Londoner Amazone vergessen, die ich irgendwo in der Nähe des Trafalgar-Platzes traf und der ich, als ich bezahlte, ein Goldstück reichte. (…) Das Mädchen biss mit den Zähnen in das Goldstück, prüfte den Klang auf der Theke und sah mich und meine Lumpen dann von oben bis unten boshaft an. ‚Wo haben Sie denn das gefunden?‘ fragte sie schließlich. ‚Irgendein Bettler hat es wohl auf dem Tisch liegenlassen, als er ging, meinen Sie nicht?‘ antwortete ich.

‚Was meinen Sie damit?‘, fragte sie und sah mir ruhig in die Augen.

‚Ich mache die Dinger selber‘, fuhr ich fort.

Sie schnaufte höhnisch und gab mir in kleiner Silbermünze heraus, und da rächte ich mich, indem ich in jede einzelne Münze biss und den Klang prüfte.

‚Ich will Ihnen einen halben Penny geben, wenn Sie mir noch ein Stück Zucker zum Tee geben‘, sagte ich.

‚Scheren Sie sich zum Teufel!‘ lautete die höfliche Antwort, und sie unterstrich deren Höflichkeit noch mit verschiedenen belebenden Ausdrücken, die sich nicht im Druck wiedergeben lassen.“ (Ebenda, S. 109f.).

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