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Helmut Caspar

Numismatische Anachronismen – Nach der Reichseinigung wurden Münzen weiter mit altem Design geprägt

Die Abkehr von den traditionellen Münzen der deutschen Bundesstaaten und die darauffolgende Hinwendung zur neuen Reichswährung verlief nach der Reichseinigung von 1871 nicht schlagartig, sondern vollzog sich über längere Zeit. Während bereits 1871 und 1872 die ersten Goldmünzen zu 20 und 10 Mark mit dem Kopf von Kaiser Wilhelm I. und dem Reichsadler geprägt wurden, kamen die neuen Pfennige erst 1873 und 1874 an die Bankschalter und in die Geldbörsen. Silbermünzen im Wert von 20 Pfennigen, einer halben Mark, einer Mark sowie zu 5 Mark wurden ab 1873 und den folgenden Jahren ausgegeben. Zu diesen Nominalen kamen auf Wunsch der Bevölkerung und Wirtschaft 1876 das Zwei-Mark-Stück und erst 1908 das Drei-Mark-Stück hinzu, das dem schon längst eingezogenen Vereinstaler aus der Zeit vor der Reichseinigung entsprach.


Die damaligen neun Münzstätten im Deutschen Reich ließen sich mit der Umstellung Zeit, denn offenbar waren noch sehr viele Kleinmünzen aus der Zeit vor dem Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 und der Reichseinigung am 18. Januar 1871 im Umlauf. Die Umstellung verlief behutsam, denn nicht alle unter der preußischen Fuchtel geeinten Deutschen begrüßten die neue Reichswährung. Außerdem gab es Widerstand einzelner Landesfürsten wie des auf seine Sonderrechte pochenden Königs Ludwig II. von Bayern, die am eigenen Geld, wenigstens am eigenen Bild und Wappen bis in kleinste Münzwerte hinab festhalten wollten und denen der neue Reichsadler mit dem preußischen Wappen auf der Brust ein Graus war. Viel schwerer wog, dass man in weiten Bevölkerungskreisen mit der Umrechnung der umlaufenden Sorten, die zum Teil noch aus dem 18. Jahrhundert stammten und/oder ausländischer Herkunft waren, in die neue Reichswährung nicht gut klar kam. So blieben Ängste und Animositäten quer durch die Gesellschaft und Regionen nicht aus.


Wenn wir in Reichsmünzen-Sammlungen schauen und Kataloge durchblättern, dann sehen wir, dass manche Münzen aus der Zeit nach der Ausrufung des preußischen Königs Wilhelms I. im Schloss von Versailles zum Deutschen Kaiser die Jahreszahlen 1871, 1872 und sogar noch 1873 aufweisen. Als trüge Wilhelm I. nicht schon längst den Titel „Deutscher Kaiser und König von Preußen“ kommen vermutlich auf Vorrat in Frankfurt am Main beziehungsweise Berlin geprägte Taler und Doppeltaler mit den Jahreszahlen 1871 vor, wo doch durch Einführung von Mark und Pfennig das alte Nominal ausgedient hatte. Da die Auflagen gering waren, weil man sich schon auf das neuartige Geld einstellte, sind diese Silberstücke selten und werden, vor allem wenn sie makellos erhalten sind, sehr gut bezahlt.

Blicken wir nach Bayern, dann finden wir Madonnentaler mit dem Bildnis von König Ludwig II. aus dem Jahr 1871 sowie Kleinmünzen zu einem Kreuzer sowie zwei und einem Pfennig mit der gleichen Jahreszahl. Die gleiche Beobachtung kann man bei Kleinmünzen des Großherzogtums Hessen (Darmstadt) zu einem Kreuzer und einem Pfennig aus den Jahren 1871 und 1872 machen. Außerdem erscheint Großherzog Ludwig III. mit seinem Kopf und Wappen auf einem 1871 in Darmstadt geprägten Vereinstaler.

Schließlich kamen 1871 bayerische, bremische, preußische, sächsische und württembergische Taler zur Erinnerung an den preußisch-deutschen Sieg über Frankreich heraus. Da die Auflage dieser Sondermünzen mit Fürstenköpfen, allegorischen Darstellungen, Wappen und ruhmvollen Inschriften recht hoch war und die Leute manche zur Ausgabezeit achtsam beiseite gelegt haben, sind sie auch heute noch preiswert zu haben. König Karl von Württemberg ließ außerdem 1871 halbe Gulden sowie 1872 halbe Kreuzer und sogar noch 1873 eigene Kreuzer prägen. Hamburg leistete sich noch bis 1872 die traditionellen Dukatenstücke mit dem stehenden Ritter auf der Vorderseite und einer Schrifttafel auf der Rückseite, verzichtete aber auf Kleinmünzen. Offenbar waren von ihnen noch so viele Stücke im Umlauf, dass der Senat keine Notwendigkeit sah, neues Kleingeld herzustellen.


Die mecklenburgischen Großherzogtümer leisteten sich 1872 eigene Ein-, Zwei- und Fünf-Pfennig-Stücke mit gekrönten Monogrammen der regierenden Landesherren Friedrich Franz II. und Friedrich Wilhelm. Da die Schweriner und Strelitzer keine eigenen Münzstätten besaßen, wurden Prägeaufträge nach Dresden vergeben. Das großherzogliche Kupfer wurde 1878 außer Kurs gesetzt. Damit war der mecklenburgische Versuch beendet, im Deutschen Reich durch eigenständiges Geld zu glänzen. Schon früher endeten die anderen Münzen im Schmelztiegel als Rohstoff für die neuen Reichsmünzen. Was übrig blieb, avancierte mit einiger Zeitverzögerung zu begehrten Sammelstücken.

Nach dem Ende der Monarchie im Zuge der Novemberevolution von 1918 und der Gründung der Weimarer Republik wurden teilweise Kleinmünzen vom Pfennig bis zu 50 Pfennigen weiter mit dem Kaiseradler geprägt, als habe es mit dem ruhmlosen Abgang von Kaiser Wilhelm II. und der anderen Bundesfürsten keine Zeitenwende gegeben. Warum das alte Design noch vier Jahre beibehalten wurde, bleibt Spekulation. Wahrscheinlich waren die zuständigen Reichsbehörden unwillig oder nicht in der Lage, sich schnell auf die neue Situation einzustellen und neue Prägewerkzeuge herstellen zu lassen. So kommt es, dass die Leute damals sowohl mit „kaiserlichen“ Kleinmünzen aus Silber und – kriegsbedingt – aus Eisen bezahlen konnten als auch mit neuen Aluminiummünzen mit dem neuen Reichsadler ohne Krone, Zepter und Reichsapfel beziehungsweise mit Ährenbündel und dem Motto: „Sich regen bringt Segen.“


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