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Wer sind die Dargestellten?


Auf einem Triobol bzw. Hemidrachmon des Aitolischen Bundes im reduzierten korkyräischen Standard (ca. 10,4 g/Didrachmon bzw. Stater) erscheint vorderseitig das nach rechts gewandte Porträt einer jungen Frau mit Petasos (Filzhut mit breiter Krempe) und rückseitig das Abbild eines nach rechts stehenden Ebers. Im Abschnitt befindet sich eine Speerspitze und über dem Eber die Aufschrift AITOLON ([Münze] der Aitoler].

Aitolische Liga (Aitolien), Hemidrachme (323–300/290 v.Chr.), Silber, 2,72 g. Quelle: Numismatik Lanz, Auktion 123 (30. Mai 2005), Los Nr. 212.

Aber was hat es mit dieser jungen Frau und dem Eber auf sich? Wurden sie zufällig als Münzmotive ausgewählt oder war ihre Wahl alles andere als ein Zufall? Nun, um diese Frage zu beantworten, empfiehlt es sich, die antike griechische Mythologie etwas zu bemühen. Dieser zufolge herrschte einst in Kalydon, der Hauptstadt Aitoliens, der mythische König Oieus. Weil Oineus nach einem ertragreichen Jahr aber allen Göttern mit Ausnahme der Artemis (Diana) Opfer dargebracht hatte, war die Jagdgöttin dermaßen erzürnt, dass sie ihm aus Rache für diesen Frevel, sie übergangen zu haben, einen fürchterlichen Eber sandte. Dieser verwüstete die umliegenden Felder Kalydons, vernichtete die Getreide-, Trauben- und Olivenernten und wütete sogar gegen Schafe, Rinder und Menschen. Da sich die verängstigten und verzweifelten Bewohner nur noch innerhalb der Stadtmauern sicher fühlten, entschloss sich Meleager (griech. Meleagros), der Sohn des Königs Oineus und der Althaia, das Untier zu jagen und zur Strecke zu bringen. Zu diesem Zweck scharte er viele junge Männer und Heroen aus Griechenland um sich, sowie die Jägerin Atalante. Der antike Autor Ovid bezeichnet diese als „die Zierde des arkadischen Waldgebirges“ und sagt ferner: „Eine glatte Spange hielt oben ihr Kleid zusammen, das Haar war schlicht zu einem Knoten geschlungen, an der linken Schulter hing klirrend der elfenbeinerne Hüter der Pfeile, in der linken Hand hielt sie den Bogen. So war ihre Tracht, ihr Antlitz aber von der Art, dass man es wohl als Mädchengesicht bei einem Jungen, aber als Jungengesicht bei einem Mädchen bezeichnen würde.“ (Ovid, Metamorphosen, 8,321 ff.) Im Gegensatz zu Meleager, der, kaum dass er Atalante gesehen hatte, sich nach ihr verzehrte, waren nicht alle im Jagdgefolge davon angetan, zusammen mit einer Frau zu jagen. Meleager aber schaffte es, die Wogen zu glätten, die Jagdgesellschaft beisammen zu halten und die Verfolgung des Ebers aufzunehmen. Nachdem sie diesen mit Netzen, Hunden und viel Lärm und Getöse aus seinem Versteck aufgescheucht hatten, stürzte sich das furchtbare Untier auf seine Angreifer, zerriss etliche Jagdhunde und verletzte oder tötete sogar einige der Jäger. Schließlich gelang es Meleager, den Eber mit seinem Speer schwer zu verwunden und anschließend zu töten. Weil Atalante diesen Eber allerdings schon zuvor und als erste mit einem gezielten Schuss unter dem Ohr verletzt hatte, verzichtete er auf seine Trophäe und überließ ihr die Haut und den Kopf des erlegten Untiers.

„Meleager und Atalante nach der Jagd auf den Kalydonischen Eber“. Fresko aus dem Tablinum der Casa del Centauro (Bildersaal des Hauses des Kentauren) in Pompeji (1. Jh. n. Chr.). Standort: Archäologisches Nationalmuseum, Neapel. Quelle: Wikimedia, Marie-Lan Nguyen.

Dies verübelten ihm viele der missgünstigen Anwesenden und murrten, doch erst seine beiden Onkel Plexippos und Toxeus beleidigten Atalante auf das Übelste und nahmen ihr die Trophäe kurzerhand wieder weg, woraufhin Meleager vor Zorn schäumte und erst den einen und dann den anderen tötete.

Die auf der Vorderseite Dargestellte ist also keine Geringere als die erwähnte Jägerin Atalante und auch der Eber der Rückseite ist kein gewöhnliches Wildschwein, sondern der mythische Kalydonische Eber. Weil die Speerspitze aus dem Abschnitt auf allen Hemidrachmen zu finden ist, handelt es sich dabei ganz offensichtlich nicht um ein beliebiges Beizeichen, sondern um ein Bildelement, welches das Ebermotiv ergänzt. Mit der Speerspitze ist, dem Mythos entsprechend, der Speer Meleagers gemeint, mit dem der Eber verwundet und getötet wurde. Diese Speerspitze, so könnte ferner argumentiert werden, symbolisiert folglich auch Meleager selbst als den eigentlichen Bezwinger des Kalydonischen Ebers. Folgt man dieser Argumentation, dann vereinten die antiken Stempelschneider die legendären Jäger Atalante und Meleager – letzterer nur symbolisch anwesend – mit ihrer Jagdbeute, dem Kalydonischen Eber, in einer eindrucksvollen Bildergeschichte.


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