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Die attische Demokratie als politisches Paradigma. Geld fürs Wählen – das ist Demokratie!

Florian Haymann


Der behelmte Kopf Athenas ziert die Vorderseite, die Eule mit Lorbeerzweig die Rückseite, dazu drei vertraute Buchstaben „AΘE“: Die hier abgebildete Münze gehört zweifellos zu Athen – und erzählt doch eine ganz andere Geschichte als die andere in diesem Buch vertretene „Eule“ (s. S. 35). Es handelt sich um ein deutlich kleineres Geldstück, eine halbe Drachme (Hemidrachmon) oder auch: drei Obole. Dies ist der Betrag, den etwa seit dem Jahr 395 v.Chr. der erste bis sechstausendste Besucher der Volksversammlung (Ekklesía) als Aufwandsentschädigung erhielt. Ab einer Menge von 6000 war die Ekklesía beschlussfähig über die Belange von etwa 40.000 Vollbürgern. Es ist gut möglich, dass die hier abgebildete Münze eigens dafür geprägt wurde, einem politisch aktiven Bürger dafür ausgehändigt zu werden, sich einen Vormittag freizunehmen, um an einigen Abstimmungen teilzunehmen. Immerhin konnte dieser Mann (nein, Frauen zählten nicht zur wahlberechtigten Bürgerschaft), so er in bescheidenen Verhältnissen lebte, davon seine Familie einen oder zwei Tage ernähren.


Attika, Athen, Hemidrachme, Silber, 2,14 g. Bildquelle: Dr. Busso Peus Nachf., Auktion 423 (7.11.2019), Los 32.

Wie kam es dazu, dass sich eine Stadt den Luxus leisten konnte, ihren Bürgern ein solches „Wahlgeld“ (Ekklesiástikon) auszuzahlen? Die Antwort darauf zerfällt in einen politisch-historischen und einen ökonomischen Teil, die freilich, das bleibt nicht aus, miteinander verflochten sind. Der erste Teil ist mit dem Namen Kleisthenes verbunden und führt ins ausgehende 6. Jh. v.Chr. Unter diesem Archonten schüttelte Athen um 510 v.Chr. die Tyrannenherrschaft ab und organisierte sich unter dem Prinzip politischer Gleichberechtigung (Isonomia) neu.


Das politische Hauptorgan waren die Ekklesía und der ihr vorgeschaltete „Rat der 500“, ausführende Beamte die neun Archonten, zuständig für eng umrissene Aufgabenbereiche. Ein konservatives Gegengewicht war der Areopag, den man sich als Ältestenrat vorstellen kann. Die Vollbürger waren in vier Vermögensklassen eingeteilt: Adlige/Superreiche, „Ritter“, Kleinbürger (Zeugiten) und Tagelöhner (Theten). Seit Abschaffung der Tyrannis war es oberstes Ziel, zu verhindern, dass Einzelne zu mächtig wurden. Dem wurde ab 486 v.Chr. dadurch entgegengewirkt, dass die Archonten nicht mehr gewählt, sondern per Los bestimmt wurden. Die politische Partizipation funktionierte so gut, dass die Standesunterschiede die Kampfkraft gegen die Perser nicht schwächten, die 490, 480 und 479 v.Chr. den vergeblichen Versuch unternahmen, ihrem Riesenreich auch Griechenland einzuverleiben.


Die historischen Seesiege von Salamis (480 v.Chr.) und Mykale (479 v.Chr.) führten den vorwiegend als Ruderer kämpfenden Theten, aber auch den Fußsoldaten, den Zeugiten, ihre immense Bedeutung für den Erfolg Athens vor Augen. Es waren v. a. die Theten, die daran interessiert waren, die Potenziale der attischen Seemacht voll auszureizen, die ab 479 v.Chr. in Gestalt des Delisch-Attischen Seebundes so expansiv wie aggressiv wurde. Bald darauf wurde der Dienst eines Bürgers als Matrose vergütet: 3 Obole pro Tag betrug dieser „Misthos“.


Ein Mann namens Perikles begann in den 460er Jahren v.Chr., konsequent Politik an den beiden unteren Vermögensklassen auszurichten. Bereits 462 v.Chr. waren der konservative Areopag entmachtet, dafür aber die Volksgerichte gestärkt worden. (Ein solches Gericht verurteilte übrigens im Jahre 399 v.Chr. den aufgeklärten Querdenker Sokrates zum Tod.) Perikles beantragte zu Beginn der 450er Jahre zwei Obole als Aufwandsentschädigung für jeden Gerichtstag, die jeweils an die bis zu 6000 Geschworenen gezahlt wurden. Auf diese Weise ergab sich für Perikles in der Volksversammlung eine stabile politische Basis, mit deren Unterstützung er u. a. das großartige Bauprogramm auf der Akropolis umsetzen konnte, das den neuen Vormachtanspruch Athens in Griechenland auch nach außen glanzvoll zur Geltung brachte. Dies trug zu seiner drei Jahrzehnte währenden Sonderstellung bei, die besonders darin zum Ausdruck kam, dass er von 443 v.Chr. an Jahr für Jahr zu einem von zehn Strategen gewählt wurde – dem letzten bedeutenden Amt, das noch nicht per Losverfahren vergeben wurde.


Männer wie Perikles wurden von konservativen Politikern als Demagogen (vornehm ausgedrückt: „Volksverführer“) verspottet. Tatsächlich ist der aggressive bis wahnwitzige, in jedem Fall aber mörderische außenpolitische Kurs, den Athen von 479 bis 404 v.Chr. fuhr und der sich als eine Phase nahezu ununterbrochener Kriege darstellt, kaum zu verstehen, ohne die Aufpeitschung der beiden unteren Klassen in der Ekklesía in Rechnung zu stellen.


Womit wir beim ökonomischen Aspekt wären. Der Lebensstil der Athener, angefangen von der prunkvollen Akropolis über den kostenlosen Eintritt ins Theater bis zur Vergütung für die politische Partizipation, beruhte auf der Machtposition ihrer Stadt im Attischen Seebund. Aus dem gesamten Mittelmeerraum flossen ununterbrochen Gelder nach Athen, die nicht nur der Flotte, sondern auch dem Stadtbild, der Kunst und der politischen Kultur zu einer neuen und nie wieder erreichten Blüte verhalfen. Die verheerende Niederlage im Peloponnesischen Krieg 404 v.Chr. bedeutete aber wenigstens auf politischer Ebene keinen Bruch: 395 v.Chr. wurde beschlossen, auch für die Teilnahme an der Volksversammlung, der Ekklesía, eine Entschädigung zu zahlen – in Form der hier abgebildeten Münze. Dies, und die Tatsache, dass die Zahlungen in den folgenden Jahrzehnten weiter erhöht, die demokratischen Elemente verfeinert wurden, zeigt auch: Selbst das wirtschaftlich und außenpolitisch geschwächte Athen konnte sich den Luxus der Demokratie weiterhin leisten – freilich getragen durch die unbezahlte Arbeit der Frauen und Sklaven sowie von den Steuern der Umwohner ohne Stimmrecht.


Die Auszahlung des Geldes an die unbemittelten Geschworenen und Ekklesiasten war nicht nur eine materielle Aufwandsentschädigung, sondern sie demonstrierte auch, dass wirklich alle ihren Beitrag zum Gemeinwesen leisten konnten. Nicht unbedingt zusammen gehörten in dieser kurzen politischen Blütezeit Status und politisches Amt.


Allzu hoch sollte die Bezahlung politischen Engagements allerdings nicht bewertet werden. Es war vielmehr ein ganzes Sortiment politischer Instrumente, die diese erste Praxis der Volkssouveränität ausmachte: die Regelungen der Dauer der Ämterführung, das Verbot der wiederholten Bekleidung von Ämtern und auch die Regelung der Auslosung wichtiger Ämter. Nicht zu vergessen sind die Abstimmung in der Volksversammlung sowie die Rechenschaftspflicht der Amtsträger nach ihrer Amtszeit gegenüber dem Volk.


Zum Weiterhören:

Florian Haymann stellt in einem World Money Fair podcast das Buch „Runde Geschichte. Europa in 99 Münzepisoden“ vor, aus dem der vorliegende Artikel stammt und dessen Mit-Herausgeber und Mit-Autor er ist. Erfahren Sie mehr!


Zum Weiterlesen:

O. Hoover, Handbook of Coins of Northern and Central Greece, Lancaster /London 2014, Nr. 1641–1642.


K.H. Kinzl, Demokratia. Der Weg zur Demokratie bei den Griechen, Darmstadt 1995.



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