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Dietmar Kreutzer

Frühe Zinsgeschäfte: Die Straßenhändler von Damaskus


In Damaskus aufgewachsen, erlebte der Autor Rafik Schami die Tricks des Straßenhandels schon als Kind. Sein geschäftstüchtiger Kamerad Ali verkaufte in den Sommerferien auf einem Blech delikat angeordnete Süßigkeiten: „Er war der Händler unter uns Kindern. Wir schufteten uns halb tot in den Läden unserer Väter, aber keiner von uns besaß auch nur einen Piaster, ausgenommen dieser magere Ali mit den kleinen stechenden Augen. Er gab sein Geld mit vollen Händen aus und sah sich gute Filme in den besten Kinos von Damaskus an, während wir uns nur hin und wieder veraltete Schnulzen in dem vermoderten Raum eines schäbigen Kinos leisten konnten. Auch Schläge bekam er weniger als wir. Sein Vater stand in seiner Schuld, dreiundsechzig Lira hatte er sich schon von seinem Sohn ausgeliehen. Ali führte Buch über jeden seiner Schuldner, sorgfältig notierte er jeden neuen Kredit. Auch ich hatte Schulden bei ihm, aber es waren nur sechs Piaster.“ (Rafik Schami: Ein ehrlicher Handel, In: Der Fliegenmelker und andere Erzählungen, München 1996, S. 36). In einem Sommer versuchte nun auch der Erzähler sein Glück. Ali musste ihm zweimal erklären, was Prozente und Zinsen beim Einkauf der Ware bedeuteten: „Nicht fünf, du Idiot, sechs Lira musst du dem Händler zurückzahlen. Du bekommst Ware für fünf, zahlst aber sechs. Diese Lira nennt man Zinsen. Zwanzig Prozent.“ (Ebenda, S. 37). Wenn er in das Geschäft einsteigen wolle, werde Ali beim Händler für ihn bürgen: „Ich bekomme eine Lira für mich, und du darfst nicht in den Straßen verkaufen, wo ich meine Kunden habe. Von hier bis zum Thomastor und dann von dort bis zum Osttor. Das ist mein Viertel. Da hast du nichts verloren.“ (Ebenda, S. 38). Rafik wurde allmählich klar, dass er insgesamt sieben Lira herausholen muss, um Ali und dem Händler alles zurückzuzahlen!

Nach dem Ersten Weltkrieg war Syrien ebenso wie der Libanon ein französisches Mandatsgebiet. Die Bank von Syrien und Großlibanon (Banque de Syrie et du Grand Liban) emittierte für beide Länder gesonderte Pfundnoten. Ein Pfund bestand aus 100 Piastern. Außerdem gab es zwei verschiedene Münzserien, die in beiden Mandatsgebieten gültig waren. Vor dem Zweiten Weltkrieg lag das Wertverhältnis zwischen dem Pfund und dem französischen Franc bei 1:20. Danach fiel der Wert des Franc gegenüber dem des libanesisch-syrischen Pfundes immer weiter ab. Im Jahr 1944, also zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit beider Länder von Frankreich, wurden 22,35 Francs für ein Pfund gezahlt. Im Jahr 1947 waren es schon 97 Francs und im Jahre 1955 schließlich 156 Francs. Die umlaufenden Münzen waren aus Silber und Kupfer-Nickel. Die wenigen Goldmünzen des Jahrganges 1950 hatten eher repräsentativen Charakter. In dem genannten Jahr war es zu einer wertmäßigen Trennung der Währungen in den beiden Ländern gekommen: „In Syrien wurde zunächst ein Institut D’Emission de Syrie für die Notenausgabe tätig; seit 1957 arbeitet die Banque Central de Syrie. Die Münzserien Syriens, in denen sich auch die politischen Verhältnisse in Gestalt der Zugehörigkeit zur Vereinigten Arabischen Republik widerspiegeln, zeigen das Adlerwappen und arabische Schrift; die netten Silbermünzen zu 25 und 50 Piaster sowie zu einem Pfund (das auch hier Lira genannt wird) der Jahre 1947, 1950 und 1958 mussten längst dem Nickel Platz machen. Das syrische Pfund hat seinen offiziellen Kurs von 380 Piaster auf den Dollar (1972: 83 Deutsche Pfennig) seit 1957 erhalten.“ (Herbert Rittmann: Moderne Münzen, München 1974, S. 311). Später verfiel das Pfund gegenüber dem Dollar infolge einer schweren Wirtschaftskrise. Im Jahr 1979 mussten für einen Dollar noch 3,9 Pfund gezahlt werden. Zehn Jahre später waren es schon 45 Pfund. Nach einer Zeit der relativen Stabilität ging es noch einmal nach unten. Anfang 2011, also kurz vor Ausbruch des syrischen Bürgerkrieges wurden etwa 48 Pfund für einen Dollar gezahlt. Anfang Dezember 2019 waren es offiziell 434 Pfund, auf dem Schwarzmarkt gar über 1.000 Pfund!

In der Geschichte von Rafik Schami beginnt der erste Handelstag mit einer Pleite. Nachdem Rafik mit seinen Kaugummis, Keksen und Zuckerpüppchen im weit entfernte Reichenviertel ankam, war niemand auf der Straße! Erst am Nachmittag kamen einige Kinder aus ihren Häusern. Einem Jungen schwärmte er vor, wie gut die Püppchen schmeckten. Sein erster Kunde! Nun kamen auch die anderen. Er erzählte ihnen, welche Spiele man in seinem Armenviertel mit den Keksen und Kaugummis anstellte. Sie spielten nun und Rafik kassierte. Über elf Lira hatte er am Abend eingenommen. Und es sollte noch besser kommen! Am nächsten Tag wollten die Kinder der Reichen mehr von den Streichen und Abenteuern der Kinder aus Rafiks Viertel hören. Sie hatten ja von nichts eine Ahnung: „Ich ging täglich in das Reichenviertel, verkaufte und spielte. Ja, spielte. Ich konnte immer gewinnen, wenn ich wollte, denn die reichen Kinder waren so richtig tolpatschig. […] Ich gewann viel, und das reizte die reichen Kinder. Sie hatten Geld wie Heu, und ich konnte eine ganze Scheune voll davon gebrauchen.“ (Ebenda, S. 41). Am Ende des Sommers hatte der kleine Händler fünfundvierzig Pfund oder Lira verdient – die ihm sein Vater umgehend abnahm!


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