Die Idee, den Götterkopf in Frontal- bzw. Dreiviertelansicht wiederzugeben, entstand, wie heute vielfach angenommen, Ende des 5. Jh. v. Chr. im griechischen Teil Siziliens – in Syrakus. „Eukleidas scheint als erster die Idee gehabt zu haben, den Göttinnenkopf <en face> darzustellen.“ (Herbert A. Cahn, Leo Mildenber, Roberto Russo, Hans Voegtli, Antikenmuseum Basel und Sammlung Ludwig, Griechische Münzen aus Großgriechenland und Sizilien, Basel 1988, S. 132).
Und doch war es nicht Eukleidas, sondern der ebenfalls in Syrakus wirkende Stempelschneider Kimon, der dieser Art der Darstellungsweise letztlich zum Durchbruch verhalf.
Mit seiner überaus anmutigen und klassisch vollendeten Nymphe Arethusa in Vorderansicht
leitete er eine neue Epoche in der griechischen Münzkunst ein; die Rede ist von der Epoche des Frontal- bzw. Dreiviertelporträts. Überall in der damaligen griechischen Welt, d. h. sowohl in Sizilien, in Unteritalien, in Griechenland, in Thrakien sowie in den griechischen Poleis Kleinasiens begannen die Münzstätten hiernach den traditionellen Götterkopf in Vorder- oder Dreiviertelansicht zu rücken. Und während die Göttinnen- oder Nymphenköpfe nur kopiert oder nachgeahmt wurden, setzte man den weiblichen Arethusakopf in Orten, in denen männliche Gottheiten verehrt wurden, in männliche Götterporträts um.
Der Kopf der Nymphe Larissa aus Thessalien geht also genauso wie der Helioskopf von Rhodos oder der Hermeskopf von Ainos oder die Apollonköpfe von Katane, Amphipolis, Klazomenai und Karien oder die Porträts der Dioskuren von Istros auf die Arethusa des Kimon zurück.
Was hatte diese Arethusa des Kimon allerdings so faszinierendes an sich, dass es im 4. Jh. v. Chr. von Sizilien bis Kleinasien geradezu Mode wurde, ihr Bildnis zu kopieren, nachzuahmen oder in ein männliches Götterporträt umzusetzen? Der Numismatiker Kurt Lange diesbezüglich wörtlich: „Man hat das so gewonnene Münzdenkmal [die Arethusa des Kimon] das schönste der Welt genannt. Es gehört zu den großen Leistungen der Kunst, und jeder Betrachter wie jedes Zeitalter wird ihm auf seine Weise huldigen müssen. Im Zusammenhang dieser Betrachtung ist bedeutsam, dass die Gottheit sich jetzt dem Beschauer zuwendet, ihn mit jenem tiefen Blicke messend, der sich seiner Wirkung bewusst wird. Ein zarter Austausch beginnt sich anzubahnen, den bisher das seitlich der unbestimmten Ferne zugewandte Auge ausschloss. Der bis dahin in sich beruhende Sinn sucht die Beziehung. Das bestätigt die innere Wandlung, die wir im Spiegel der Münze zu erkennen glauben“. (Kurt Lange, Götter Griechenlands, Meisterwerke antiker Münzkunst, Berlin 1946, S. 31).
Mit anderen Worten, was die Stempelschneider des ausgehenden 5. und folgenden 4. Jh. v. Chr. an dieser Arethusa-Darstellung des Kimon so sehr geschätzt haben dürften, war nebst dem ungeheuren Liebreiz, den sie ausstrahlte, der völlig neuartige Zugang zur Gottheit, der sich ihnen als Künstler beim Betrachten derselben bot. Schließlich scheint diese Arethusa mit ihrem „wasserklaren“ und dem Betrachter zugewandten Blick derart beseelt und lebendig, dass die antiken Stempelschneider wohl nicht umhin konnten, es Kimon in ihren eigenen Werken gleich tun zu wollen.
Doch wie sehr sie sich auch bemühten, „die edle Vollendung des sizilischen Vorbildes“ erreichten sie nicht – wenngleich es auch unter ihren Schöpfungen Werke von hoher künstlerischer Ausstrahlung und beeindruckender Ästhetik gibt. Vermutlich gab es im 4. Jh. v. Chr. rund ums Mittelmeer auch Stempelschneider, die mit ihren Frontal- bzw. Dreiviertelporträts nicht dem großen sizilischen Vorbild nacheiferten, sondern schlicht und einfach nur dem Zeitgeist in der Münzglyptik folgten; einem Zeitgeist, der sich, wenn man mal von Rhodos, Karien und einigen wenigen anderen Orten absieht, bereits in der 2. Hälfte des 4. Jh. v. Chr. wieder auf dem Rückzug befand.
Selbst in Syrakus hatte man sich nach Eukleidas und Kimon vom Frontalporträt wieder verabschiedet und danach nur noch Münzen mit Profilansicht gefertigt. Der Grund: so ästhetisch, beseelt und ausdrucksstark die Münzen in Vorder- oder Dreiviertelansicht den Stempelschneidern und ihren Zeitgenossen auch erschienen sein mögen, für den Umlauf waren sie kaum geeignet. Denn dadurch, dass das Gesicht auf diesen Münzen der Abnutzung ungeschützt preisgegeben war, büßten sie ihre Ästhetik sehr viel schneller ein, als jene in Profilansicht.
Für Numismatiker wie Kurt Lange war die Vorderansicht deshalb „eine Verirrung“ und zwar auch dann, wenn man in Betracht zieht, dass diese Münzen infolge ihres „neuartigen Reizes“ und ihres recht hohen Kaufwertes keinem schnellen Umlauf ausgesetzt waren. „Vernutzung war unvermeidlich, und sie traf mit der Nase einen ästhetisch höchst wesentlichen Teil. Schlag, Druck und Reibung, bei seitlich gewendeten Köpfen durch Ohr und Haarbuckel glücklich abgefangen, ohne dass die Gesichtszüge dabei Schaden erfuhren, mussten hier die Schönheit der Darstellung sogleich erheblich beeinträchtigen“ (Kurt Lange, ebenda, S. 32).
Nun, mag die Vorder- bzw. Dreiviertelansicht auch tatsächlich „eine Verirrung“ gewesen sein, allerdings eine wunderschöne, ohne die, die antike griechische Numismatik erheblich ärmer wäre.
Comments