Was in Not geratene Berliner für ein paar Silberdollars zu tun bereit waren, hatte der sowjetische Schriftsteller Ilja Ehrenburg schon nach dem Ersten Weltkrieg erlebt: „Wir fuhren mit der U-Bahn, liefen lange durch schwachbeleuchtete Straßen und landeten schließlich in einer gutbürgerlichen Wohnung. An den Wänden hingen die Fotografien diverser Familienmitglieder in Offiziersuniform und ein Bild, das den Sonnenuntergang darstellte. Wir bekamen Sekt – Limonade mit Alkohol gemischt. Dann erschienen die beiden Töchter des Hauses im Evakostüm und tanzten. (…) Die Mutter blickte die ausländischen Gäste erwartungsvoll an: Vielleicht würden sie die Töchter anziehend genug finden, um Geld springen zu lassen – Dollars natürlich …“ (Ilja Ehrenburg, Menschen, Jahre, Leben, Berlin 1982, S. 9).
Während der Weltwirtschaftskrise (1931) stellte er durchaus Vergleichbares fest: „Berlin war jetzt das Paradies der Homosexuellen aus aller Welt. Mühelos fand man einen reizenden jungen Mann. Abends spazierten junge Arbeitslose in der Linden-Passage, im Tiergarten und am Alexanderplatz auf und ab. Viele trugen kurze Hosen und versuchten, kokett zu lächeln. Ein, zwei Mark war die Taxe. In einer Imbissstube kam ich mit einem ins Gespräch. Er erzählte, in Berlin wohne ein Hohenzollernprinz, kein falscher, sondern ein echter. Wenn der einen Jungen sehe, der ihm gefalle, schlage er ihn mit seiner Reitgerte und gebe ihm dann zehn Mark. Das Haus des Prinzen sei ständig von jungen Männern belagert, die auf ihr Glück warten.“ (Ebenda, S. 215).
Tatsächlich litten die Menschen im Herbst 1931. Die Zahl der Arbeitslosen war von 1,6 Millionen im Oktober 1929 auf über fünf Millionen im Herbst 1931 gestiegen. Dem Zusammenbruch der Österreichischen Credit-Anstalt im Frühjahr 1931 folgte die Zahlungsunfähigkeit der Darmstädter und Nationalbank im Sommer des Jahres. Ein panikartiger Sturm auf Banken und Sparkassen war die Folge. Um den totalen Zusammenbruch zu verhindern, schloss die Regierung per Notverordnung alle Banken und Börsen. Der Leitzins war erhöht, Zahlungsverkehrs- und Devisensperren erlassen worden. Um dem Geldmangel zu begegnen, wurde am 19. Juli 1931 die Prägung von Fünf-Mark-Stücken im Wert von 100 Millionen Mark beschlossen. Hinzu kam eine Millionenauflage an Drei-Mark-Stücken.
Ein Arbeitsloser berichtete dem Schriftsteller Ehrenburg, dass er neun Mark Monatsunterstützung erhalte. Eine Pritsche im Nachtasyl koste aber schon fünfzig Pfennige! Daher schliefen viele Obdachlose im Tiergarten, auf Freiflächen oder in Kellern. Eine Imbisshalle am Alexanderplatz zeigte Kartoffeln mit Speck, Wurst, Eisbein im Schaufenster. Auf einem Schild konnte man lesen: Kolossal! Nur 55 Pfennig! Die Menschen blieben lange vor der Auslage stehen, warfen begehrliche Blicke ins Fenster. Doch nur wenige konnten sich das Festmahl leisten.
Waren die Verhältnisse in Deutschland besorgniserregend, so waren sie in der Sowjetunion verheerend. Aufgrund der Zwangskollektivierung in der Landwirtschaft brachen die Ernteerträge ein. Um Devisen zu erhalten, exportierte die Regierung aber weiter Lebensmittel. In der Ukraine verlangten die Kader der Partei mit vorgehaltener Pistole die Herausgabe der gesamten Ernte. Die Preise für landwirtschaftliche Produkte war im Zuge der Weltwirtschaftskrise aber zurückgegangen. Vor allem der Preis für Weizen war drastisch gefallen. Eine der größten Hungersnöte des 20. Jahrhunderts war die Folge. Über drei Millionen Menschen starben allein in der Ukraine. In der gesamten Sowjetunion waren es etwa sieben Millionen.
Um an dringend benötigte Importwaren zu gelangen, musste die UdSSR mit Gold zahlen. Doch die staatliche Goldreserve war infolge jahrelanger Misswirtschaft weitgehend aufgebraucht. Seitens der Regierung wurde daher eine groß angelegte Sammelaktion ins Leben gerufen. Sämtliches Gold, das in öffentlichen Einrichtungen verfügbar war, musste abgeliefert werden. Dreißig Tonnen kamen so zusammen. Außerdem wurden „Torgsin“-Geschäfte eröffnet, deren Produkte allein für Gold erhältlich waren. Gigantische 220 Tonnen Gold wurden den hungernden Menschen damit abgenommen. Ilja Ehrenburg: „Die Torgsin-Läden lockten mit Mehl, Zucker und Schuhen. Aber in Zahlung wurde nur Gold genommen: Verlobungsringe, zurückgehaltene Zarenmünzen.“ (Ebenda, S. 234).
Die staatlich zugewiesenen Rationen reichten in vielen Gegenden kaum aus, um zu überleben. In Tomsk, schreibt Ehrenburg, sah das Brot wie Lehm aus. Auf dem Markt wurden nur noch winzige, verschmutzte Zuckerstückchen angeboten. Die Typhusabteilung des Krankenhauses war überfüllt. Der Flecktyphus grassierte. „Es war wie im Krieg in der Etappe, aber die Etappe war Front: Der Krieg war überall.“ (Ebenda).
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