Vor 45 Jahren verschwand in Italien innerhalb kürzester Zeit so gut wie alles Kleingeld aus dem Umlauf. Kaufte man im Laden etwas ein, bekam man als Wechselgeld einen Karamel Bonbon, einen Kaugummi, einen Tram-Fahrschein oder einen Suppenwürfel ausgehändigt. Um dem Zustand abzuhelfen, begannen Geschäftsleute und Banken mit der Ausgabe von Ersatzgeld. Miniassegnos, auf schlechtem Papier gedruckte Minischecks im Gesamtwert von über 200 Milliarden Lire wurden ausgegeben. Der deutsche Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger machte die Probe aufs Exempel: „Ich betrete die Schalterhalle und zahle auf mein Konto ein paar Millionen Lire in bar ein. Banknoten sind ja immer noch genügend vorhanden, die Notenpresse arbeitet unermüdlich. Als Gegenwert händigt mir die Bank riesige Mengen von Minischecks auf Löschpapier aus, in winzigen Abschnitten zu je 50 oder 100 Lire. Dieses Kleingeld setze ich in Umlauf, im Laden, in der Lohntüte, am Schalter, im Restaurant.“ (Hans Magnus Enzensberger, Ach Europa!, Frankfurt/Main 1989, S. 88).
Insgesamt 42 Banken und Sparkassen brachten über 830 verschiedene Grundtypen von Ersatzgeld heraus, das später teils wieder eingetauscht wurde. In Südtirol gab es besonders kurioses Notgeld: „Neben den Minischecks wurden in den Jahren 1975 bis 1978 von den Bankinstituten Briefmarken als Ersatz zum offiziellen Zahlungsmittel in den Umlauf gebracht. Verwendet wurden Briefmarken, die in jener Zeit im Umlauf waren. Sie wurden in Plastikhüllen eingeschweißt, auf denen der Name der Bank ersichtlich war. Meist befand sich auch ein kurzer Text in der Plastikhülle mit dem Hinweis, dass die Briefmarken jederzeit wieder eingelöst werden konnten. Auch Gesellschaften wie beispielsweise die italienische Autobahn bedienten sich dieser Möglichkeit.“ (Thema Sammeln: Notgeld, Miniassegno und Briefmarkennotgeld, in: Die Briefmarke, Heft 1/2020, S. 34).
Wie es zu einem derart gravierenden Münzmangel kommen konnte, wussten die Italiener selbst nicht so recht. Enzensberger hat eine kleine Sammlung der Erklärungsversuche von damals zusammengestellt.
Ein Bankangestellter: „Es war kein Metall mehr da.“ Eine Theaterkritikerin: „In Japan und Singapur haben sie aus unseren 50-Lire-Stücken Knöpfe gemacht, und deswegen sind die Münzen verschwunden.“ Ein Taxifahrer: „Die Gewerkschaften sind schuld. Sie haben mit ihren Forderungen das ganze Land ruiniert. Deshalb funktioniert auch die Münze nicht.“ Der Finanzminister: „Die Ausländer, die zum Heiligen Jahr gekommen sind, haben unser Kleingeld als Souvenir mitgenommen.“ Ein kommunistischer Gewerkschafter: „Das ist eine Verschwörung der Banken, die auf Kosten des kleinen Mannes ein Riesengeschäft machen.“ Eine Schuhverkäuferin: „Das Kleingeld kostet zu viel, und das Parlament wollte nicht zahlen.“ Die Tageszeitung La Stampa: „Die Hundert-Lire-Stücke werden in riesigen Tankwagen in die Schweiz gebracht, wo die dortige Industrie aus ihnen Uhrgehäuse macht.“ Ein Kellner: „Das Kleingeld steckt einfach in den Automaten, die zu selten geleert werden.“ Der Finanzausschuss des Senates: „Bei der gegenwärtigen Unterbringung der Münze können wir weder eine angemessene Erhöhung der Produktion, noch die minimalsten Bedingungen für die Sicherheit und Gesundheit des Personals garantieren.“ Vox populi, die Stimme des Volkes: „Was wollen sie, so sind wir eben. Da kann man nichts machen. Das System ist schuld. Alle diese Politiker und Beamten aus dem Süden. Eigentlich war es ein Fehler, dass wir die Österreicher vertrieben haben.“ Wer von ihnen hatte wohl recht?
Der Mangel an Münzgeld war in der italienischen Nachkriegszeit nicht neu. Im Jahr 1958 waren erstmals silberne Kursmünzen zum Nennwert von 500 Lire erschienen. In den ersten drei Jahren brachte die staatliche Prägestätte über 67 Millionen Exemplare in Umlauf. Die werthaltigen und zudem ausgesprochen attraktiven Münzen wurden jedoch von Anfang an gehortet. Damit hatten die Stücke ihre Funktion als Zahlungsmittel verloren. Seit 1968 wurden sie nur noch veredelt und in kleinen Auflagen für Sammler hergestellt. Der Mangel an diesen Münzen bewirkte, dass schon einmal kurzzeitig Minischecks umliefen – bis zur ersatzweisen Ausgabe von Banknoten über 500 Lire. Doch auch Münzgeld aus unedlem Metall war schon längere Zeit knapp. Eine Studie zeigte, dass der Anteil der Münzen am Geldumlauf in allen Industrieländern bei etwa acht Prozent lag. In Italien war er auf drei Prozent gesunken, später sogar auf 1,2 Prozent. Eine neue Prägestätte musste her! Doch die Mittel dafür verschwanden immer wieder in dunklen Kanälen.
Als die Kleingeldkrise in den Jahren 1976/77 auf ihren Höhepunkt zusteuerte, sahen sich zwei italienische Journalisten in der maroden staatlichen Prägestätte Zecca di Roma um. Die Räume starrten vor Dreck. Die Luft war voller Zyanid, der Lärm der altertümlichen Pressen ohrenbetäubend. Überall standen schrottreife Maschinen herum. Ein Arbeiter beklagte sich: „Bis vor kurzem mussten wir die Münzen mit der Hand zählen, Stück für Stück. Die Vorschriften, nach denen wir arbeiten müssen, stammen aus dem Jahr 1921. Die Leitung ist absolut unfähig. Die Münze ist total verwahrlost.“ (Enzensberger, S. 96).
Der Skandal führte zur Ablösung der Betriebsleitung. Jahrelang zurückgehaltene Gelder wurden von den Behörden freigegeben, die Münzstätte der Staatsdruckerei angeschlossen. Tatsächlich stieg der Ausstoß nun sprunghaft an. Wurden auf dem Höhepunkt der Krise (1976-1978) knapp 41 Millionen Münzen im Nennwert von 20 Lire geprägt, waren es innerhalb der drei Folgejahre schon über 175 Millionen. Ähnlich sah es bei den höheren Nominalen zu 50 und 100 Lire aus.
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