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„Eine Münze in neun Händen“


Marguerite Yourcenar im Jahr 1982. Bildquelle: Wikimedia, Grendel

Vor 60 Jahren vollendete Marguerite Yourcenar ihr vielschichtiges Mussolini-Drama

Die Geschichte beginnt mit Paolo Farina, jenem unglücklichen Provinzler, dem die Geliebte durchgebrannt war. Erfolglos versuchte Paolo zunächst, ein anderer Mensch zu werden. In seinem Unglück erwärmte er sich endlich für andere Frauen. Insgeheim versuchte er jedoch verzweifelt, die Verflossene in ihnen zu erblicken. Gegen Ende des einleitenden Kapitels schrieb Marguerite Yourcenar den weisen Satz: „Liebe kauft man nicht; Frauen, die sich für Geld weggeben, vermieten sich eigentlich nur an die Männer; aber man kauft Träume; diese ungreifbare Ware wird in vielfacher Form abgesetzt.“

Titelbild der deutschen Taschenbuchausgabe von 2006, eine gebundene Ausgabe erschien 1987 im Hanser Verlag

Die Story

Italien, Anfang der 1930er Jahre. Nach der Ermordung eines bekannten Sozialistenführers hat Benito Mussolini die Macht an sich gerissen. Doch im politischen Untergrund brodelt es. Da will es der Zufall, dass ein Zehn-Lire-Stück das Schicksal von neun Menschen verknüpft. Alle sind sie gefangen in ihren Träumen und Leidenschaften, ihrer Einsamkeit: Lina, die krebskranke Hure, Dida, die alte Blumenverkäuferin, Giulio, der kleine Parfümhändler … und auch Marcella, die sich einer Gruppe von Verschwörern angeschlossen hat. Die junge Arzt-Gattin hat nur ein Ziel – Mussolini umzubringen.

Italien, 10 Lire 1927. Bildquelle: Numismatica Mazzarino

Die Münze

Im 2. Kapitel taucht die schicksalhafte Münze erstmals auf. Ein Verehrer hatte Lina eine Kleinigkeit gekauft. Als die Beschenkte später ihre Handtasche öffnet, findet sie „das silberne Zehn-Lire-Stück, das Paolo Farina ihr gestern gegeben hatte, in der Hoffnung, dass die Neuheit der Prägung die Bescheidenheit des Geschenks ausgleiche“. Einige Seiten später spielt das Geldstücke eine Rolle im Gespräch zwischen Rosalia und Marcella, zwei Nachbarinnen. Mithilfe eines Seilzuges wird Heizmaterial von einer in die nächste Wohnung transportiert. „Der Korb, der an einem Strick herabkam, enthielt den Obolus für Charon in Form eines Zehn-Lire-Stücks mit dem Abbild eines Monarchen aus dem Hause Savoyen.“ Aus dem Besitz von Marcella wandert die Münze in die Hände des Arztes Alessandro. Als nächstes ist sie im Besitz von Dida, der Blumenverkäuferin. Als jene in einer verregneten Nacht einen alten Bettler sieht, will sie eine gute Tat vollbringen. Sie kramt in ihrer Schürze und macht sie dem Bedürftigen zum Geschenk. „Nimm, Alter. Das ist für dich.“ Im Weggehen grummelt sie: „Zehn Lire, das ist doch wirklich kein Pappenstiel.“ Der Alte ist jedoch kein Bettler. Es ist Clément Roux, ein betagter Kunstmaler. Er wirft das Geldstück in den berühmten Trevi-Brunnen, wo es in eine Spalte zwischen den Steinen fällt. Nun naht ein Arbeiter der Wasserwerke, der eine lecke Stelle im Brunnen ausfindig machen soll. Er findet die Münze. Soll er mit dem Fundstück eine Krawatte für die Taufe seines Kindes oder ein paar Flaschen Asti kaufen, um im Familienkreis auf das Wohl der Wöchnerin zu trinken? Letztlich geht er mit dem sicheren Schritt eines Stammgastes auf die kleine Taverne am Bahnhof zu …

Die Lehre

Im 11. Jahr von Mussolinis Herrschaft (1934) veröffentlichte die Schriftstellerin und Historikerin Marguerite Yourcenar (1903–1987) ihr Buch erstmalig in Paris. Im Jahr 1958 begann sie das Werk komplett zu überarbeiten und schrieb: „Episoden, die durch das Wiederauftauchen derselben Personen und Themen oder durch die Einführung von Zusatzthemen bereits miteinander verwandt waren, wurden durch ein von Hand zu Hand gehendes Geldstück verknüpft und das Zehn-Lire-Stück wurde dort wie hier zum Symbol für den Kontakt zwischen Menschen, die, jeder auf seine Art, in ihren eigenen Leidenschaften und ihrer inneren Einsamkeit verhaftet sind.“ Sie schildert die bedrückende Atmosphäre des Faschismus, den viele der Handelnden als Schicksal begreifen. Allein die junge Marcella setzt sich mit einer mutigen Tat zur Wehr!

Die titelgebende Münze ist ein Zehn-Lire-Stück aus 835er Silber (10 Gramm, Durchmesser: 27 Millimeter). Über 60 Millionen Exemplare wurden zwischen 1926 und 1934 von ihr geprägt. Die Vorderseite zeigt das Porträt des Königs Viktor Emanuel III. (1869–1947). Auf der Rückseite führt die Italia eine Biga (Pferdegespann). Im linken Arm hält sie das Symbol der italienischen Faschisten, die Fasces. Das Motiv hat der Bildhauer, Kupferstecher und Medailleur Guiseppe Romagnoli (1872–1966) entworfen. Sein Namenszug ist unter den Hufen der Pferde zu finden. Graveur (Incisore) war Silvio Attilio Motti (1867–1935).


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