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Matthias Erzberger – visionärer Politiker und Patriot


Quelle: Konrad-Adenauer-Stiftung

Matthias Erzberger (1875–1921) war ein deutscher Politiker des Zentrums, aus dem später die CDU entstanden ist. Er wurde am 20. September 1875 in Buttenhausen, einer 2.000-Seelen-Gemeinde auf der Schwäbischen Alb, als eines von sechs Kindern eines Schneidermeisters geboren. Der Vater fungierte zusätzlich als Briefträger, um die Familie ernähren zu können. Da Geld und Verbindungen fehlten, musste Erzberger sich auf seinen Fleiß und seine Intelligenz verlassen. Seine später vielfach bewunderten enzyklopädischen Kenntnisse auf den verschiedensten Gebieten eignete er sich als Autodidakt an. Die Tatsache, den sozialen Aufstieg aus eigener Kraft geschafft zu haben, verhalf ihm zu einem kaum zu erschütternden Selbstbewusstsein. Ein Lehrer erkannte Erzbergers Begabung und überredete den Vater, Matthias eine Ausbildung zum Volksschullehrer absolvieren zu lassen, die er als bester seines Jahrgangs abschloss. Für diese Ausbildung musste kein Schulgeld gezahlt werden, weshalb viele begabte, aber aus einfachen Verhältnissen stammende junge Männer diesen Weg gingen. Die Lehrtätigkeit ließ Erzberger genug Zeit, sich intensiv mit politischen Fragen zu beschäftigen. Schnell wurden führende Zentrums-Politiker der Region auf den vielversprechenden jungen Mann aufmerksam, der in Streitgesprächen keinen Respekt vor Alter oder Rang seines Gegenübers kannte.

Im Jahr 1896 trat er in die Redaktion des „Deutschen Volksblattes“ ein, als deren Landtagsberichterstatter er die parlamentarische Praxis seiner württembergischen Heimat kennen lernte. Gleichzeitig übernahm er im Auftrag des Zentrums die Funktion eines Arbeitersekretärs, der Arbeitnehmer in sozialen und arbeitsrechtlichen Fragen beriet. Damit nicht genug: Um die Jahrhundertwende war er auch noch an der Gründung eines schwäbischen Handwerkerbundes und eines Bauernvereins sowie beim Aufbau christlicher Gewerkschaften federführend beteiligt. Eine solche Aufstiegsgeschichte mit Hilfe der Strukturen des katholischen Milieus war in der damaligen Zeit durchaus typisch.Parlamentarier im KaiserreichBei der Reichstagswahl am 16. Juni 1903 kandidierte Erzberger erfolgreich im Wahlkreis Biberach und Umgebung und zog mit 28 Jahren als jüngster Abgeordneter in den Deutschen Reichstag ein. Er siedelte nach Berlin über, um dort stets präsent zu sein, und wurde so zu einem der ersten Berufsparlamentarier. Da die Zahlung von – zudem relativ bescheidenen – Diäten erst 1905 eingeführt wurde, schuf er sich als Herausgeber einer von zahlreichen Blättern genutzten Pressekorrespondenz ein politisches und wirtschaftliches Standbein.Schon 1904 wurde er Mitglied des wichtigen Haushaltsausschusses und dort Referent für den Militär- und Kolonialetat. In dieser Funktion entwickelte er sich zum ob seiner Detailkenntnis gefürchteten Experten in Militärfragen. Der preußische Kriegsminister Karl von Einem äußerte einmal: „Wenn ein neuer Antrag kommt, den ich nicht gleich verstehe, frage ich zuerst Erzberger. Der kann immer gleich Auskunft geben und weiß viel besser Bescheid als meine Offiziere und Beamten.“ Immer stärker wuchs bei Erzberger in diesen Jahren die Erkenntnis, dass das politische System des Kaiserreiches einer Parlamentarisierung dringend bedürfe. Er erklärte: „Es ist ganz klar, dass ein Volk, das die allgemeine Schulpflicht, die allgemeine Wehrpflicht, die allgemeine Steuerpflicht hat, nicht nur regiert werden will von der Bürokratie, sondern dass kein Volk um den Zeitpunkt herumkommt, wo eine solche Erweiterung der Rechte des Parlaments notwendig ist.“ Er vertraute darauf, dass eine Parlamentarisierung zu einem höheren Verantwortungsbewusstsein aller Parteien führen, fähigen Parlamentariern den Weg zur Übernahme ministerieller Verantwortung ebnen und die Herausnahme des Kaisers aus dem politischen Tagesgeschehen das Prestige der Monarchie stärken werde.Außenpolitisch bewegte sich Erzberger lange in den Bahnen des vorherrschenden Zeitgeistes. Er war zutiefst davon überzeugt, dass das Deutsche Reich eine starke Armee brauche, um seine Interessen weltweit verfolgen zu können und trat deshalb im Reichstag energisch für die verschiedenen Vorlagen zur Heeresvermehrung ein.

Das schicksalhafte Jahr 1917 wurde auch für ihn zu einem Wendepunkt. Die militärische Lage war schwierig, ein vierter Kriegswinter für die ohnehin unzureichend ernährte Bevölkerung stand drohend bevor, die Stimmung in der Arbeiterschaft war auf einem Tiefpunkt angelangt. Erzberger nahm diese Realitäten zur Kenntnis und wollte Konsequenzen zu ziehen. Der Einführung des uneingeschränkten U-Boot-Krieges, mit dem die Militärs behaupteten, England in kurzer Zeit in die Knie zwingen zu können, widersprach er. Statistische Berechnungen führten ihn zu dem Schluss, dass der gewünschte Erfolg ausbleiben müsse, da die Zahl der verfügbaren U-Boote viel zu klein sei. Der U-Boot-Krieg werde aber nahezu sicher zum Kriegseintritt der USA gegen Deutschland führen. Als dieses Szenario am 6. April 1917 Wirklichkeit geworden war, sah er in einem Verständigungsfrieden auf der Basis des Status quo ante die einzig verbliebene Option. Einem Zeitungsredakteur, der ihn daraufhin wegen seiner „Prinzipienlosigkeit“ kritisierte, schrieb er, „nur ein politischer Idiot kann im Jahre 1917 das Kriegsziel noch so stecken wie 1914/15“. Innenpolitisch unternahm Erzberger einen neuen Anlauf zur Parlamentarisierung des Reiches und war Initiator der Friedensresolution des Reichstages. In einer als sensationell empfundenen Rede vor dem Hauptausschuss stellte er am 6. Juli 1917 die innen- und außenpolitische Lage in düsteren Farben dar und forderte Konsequenzen, „sowohl in der Wahlrechtsfrage wie in der engeren Fühlungnahme zwischen Regierung und Parlament“. Am 19. Juli beschloss das Parlament mit einer Mehrheit aus Zentrum, linksliberaler Fortschrittlicher Volkspartei und SPD einen „Frieden der Verständigung“ ohne „erzwungene Gebietserwerbungen“ anzustreben. Es gelang jedoch nicht, die militärische und die politische Führung des Deutschen Reiches auf diese außenpolitische Linie zu verpflichten. Der zur Vorbereitung dieser Resolution geschaffene „Interfraktionelle Ausschuss“ aber bildete den Ausgangspunkt für die Formierung einer dauerhaften parlamentarischen Mehrheit. Erzberger hatte damit einer der Grundbedingungen des Parlamentarismus den Weg geebnet, nämlich der prinzipiellen Kooperationsbereitschaft aller demokratisch gewählten und gesinnten Parteien.

"Ein Volk von 70 Millionen leidet, aber es stirbt nicht!"

Die Friedensresolution schuf Erzberger zahlreiche Gegner innerhalb der alten, um ihre Stellung fürchtenden Eliten und machte ihn zum Gegenstand einer gezielten Hetze. Trotz der Angriffe trat er Anfang Oktober 1918 in die Regierung des Reichskanzlers Prinz Max von Baden ein. Durch die sog. „Oktoberreformen“ war kurz zuvor die von ihm seit langem angestrebte parlamentarische Umwandlung des politischen Systems vollzogen worden. Erzberger übernahm die Leitung der Delegation für die Waffenstillstandsverhandlungen und unterzeichnete am 11. November 1918 das für Deutschland äußerst harte Waffenstillstandsabkommen. Dies bedeutete für die gerade ausgerufene Weimarer Republik, die demokratischen Kräfte und für Erzberger persönlich eine schwere Hypothek. Die Köpfe der Obersten Heeresleitung, Ludendorff und Hindenburg, hatten angesichts der militärischen Lage ultimativ auf einen sofortigen Waffenstillstand gedrängt, auch unter Hinnahme härtester Bedingungen. Schon kurze Zeit danach begannen die Generäle jedoch, die sog. Dolchstoßlegende in die Welt zu setzen, wonach das „im Felde unbesiegte Heer“ von inneren Feinden „hinterrücks erdolcht“ worden sei. Theodor Heuss urteilte daher über Erzbergers Rolle beim Abschluss des Waffenstillstands: „…dass er dies tat, war sachlich und menschlich eine fehlerhafte Entscheidung. Denn diese Aufgabe wartete auf ein Mitglied der Obersten Heeresleitung, die für den Ablauf der Kriegshandlungen verantwortlich gewesen. Dies aber war nun, wenn man so will, Erzbergers ´Schwäche´, eine betriebsame, bedenkenlose, auch mutige Verantwortungswilligkeit…“. Matthias Erzberger gehörte dem ersten Kabinett der sog. Weimarer Koalition (SPD, Zentrum, DDP) als Minister ohne Ressort an und behielt die Zuständigkeit für die Waffenstillstandsverhandlungen. In der von Juni 1919 an amtierenden, nur aus Zentrum und SPD bestehenden Regierung unter Reichskanzler Gustav Bauer war er als Vizekanzler und Finanzminister die entscheidende Figur. Er trat dafür ein, den harten Versailler Friedensvertrag anzunehmen, da er befürchtete, dass die Alternative eine dauerhafte Besetzung und Zerstückelung des Reiches sein würde. Er wollte verhandeln und Verbesserungen erreichen, sah aber letztlich keine verantwortbare Alternative zur Unterschrift. Mit dieser rationalen Argumentation hatte er es schwer gegenüber den negativen Emotionen, die die Bestimmungen des Versailler Vertrags in Deutschland auslösten, und galt erneut vielen als „Verräter“ an Volk und Reich.

3 Mark 1922, auf die Verfassung, J. 303; Quelle: www.emuenzen.de

Mit Erzbergers Namen ist auch eine bis heute nachwirkende, einschneidende Reform der deutschen Finanzverfassung verbunden. Er vereinheitlichte das Steuerwesen und die Steuersätze und führte eine Luxus-Steuer sowie eine Abgabe auf Dividenden ein. Der Spitzensteuersatz wurde drastisch erhöht, wodurch auch während des Krieges erzielte Gewinne abgeschöpft werden sollten. Erzberger erklärte dazu, in der Vergangenheit seien „das Recht auf Eigentum maßlos betont, aber die Grenzen und Pflichten des Eigentums vielfach nicht scharf genug hervorgehoben“ worden. Neben der Herstellung größerer sozialer Gerechtigkeit sollte die Reichsfinanzreform angesichts starker föderalistischer Traditionen und Tendenzen den Einheitsstaat stärken, ohne die Eigenständigkeit der Länder aufzugeben. Bis heute in Kraft ist das damals von Erzberger eingeführte direkte Steuerabzugsverfahren durch die Finanzämter.

Am 26. August 1921 wurde Matthias Erzberger in Bad Griesbach im Nordschwarzwald, wohin er sich für einen kurzen Urlaub begeben hatte, während eines Waldspaziergangs erschossen. Die Mörder waren zwei Mitglieder der rechtsextremistischen terroristischen „Organisation Consul“, der ein Jahr später auch Außenminister Walter Rathenau zum Opfer fiel.Die Ermordung Erzbergers stellte für die junge Demokratie einen irreparablen Verlust dar. Seine Arbeitskraft, sein Mut zu unpopulären Entscheidungen und seine Durchsetzungsfähigkeit haben ihr bitter gefehlt. Hätte Erzberger sich mit seinem Eintreten für die Parlamentarisierung des Reiches und für einen Waffenstillstand eher durchsetzen können als im Oktober 1918, wären die Aussichten der Weimarer Republik vermutlich besser gewesen. So aber war sie in unheilvoller Weise mit der Niederlage verknüpft. Sein früher Tod durch Ermordung mag in der Rückschau als ein frühes Menetekel für das Schicksal der ersten deutschen Demokratie erscheinen, waren doch die Angriffe auf ihn stets auf die Republik als solche gemünzt. Zugleich aber ist die Person des zu Unrecht weitgehend in Vergessenheit geratenen Matthias Erzberger ein Beispiel für die demokratischen und zukunftsweisenden Potenziale der Weimarer Republik und Teil der demokratischen Traditionen, an die die Bundesrepublik bei ihrer Gründung 1949 anknüpfen konnte.

Gedenkmarke der Deutschen Bundespost zum 100. Geburtstag Erzbergers im Jahr 1975. Quelle: Konrad-Adenauer-Stiftung.

Matthias Erzberger war ein neuer Typus Politiker, einer der ersten Berufs-Politiker Deutschlands, der in schwierigen Zeiten seine Pflicht erfüllte. Bei dem Friedens-Diktat versuchte er mit den Siegern zu verhandeln, was jedoch zwecklos war. Auch danach war er darum bemüht, die Auswirkungen des diktierten Friedens für die deutsche Bevölkerung abzumildern und erträglicher zu gestalten. Durch seine umfassende Steuer- und Finanzreform, die wohl größte in der deutschen Geschichte, machte er sich gerade im industriellen Großbürgertum viele Feinde, da er zahlreiche Steuer-Privilegien der Eliten abschaffte, um den Deutschen Reich eine stabilere finanzielle Grundlage zu geben. Wahrscheinlich war er seiner Zeit in vielen Dingen geistig-politisch voraus, gerade vom national-konservativen Lager der Weimarer Republik und später von den Nationalsozialisten wurde er als "Verräter" verleumdet.

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