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Michael Kurt Sonntag

Ein Tarentiner Goldstater der Spitzenklasse


Der antiken griechischen Mythologie zufolge war Taras, der Sohn des Poseidon und der Nymphe Satyra, ein Flussgott, der die Stadt Tarent gründete (laut Pausanias) oder zumindest förderte (laut Servius) und ihr seinen Namen gab (griechisch „Taras“). Historisch betrachtet, wurde das an der Nordwestküste Kalabriens am Golf von Tarent gelegene Tarent um 706 v. Chr. von Sparta gegründet und blieb die einzige spartanische Kolonie in Großgriechenland (Magna Graecia). Der mythische Gründerheros soll der Spartaner Phalanthos gewesen sein, welcher der Legende nach kurz vor Italien Schiffbruch erlitt, anschließend von einem Delphin gerettet und an die Küste gebracht wurde, an der er dann Tarent gründete.

Der Aufstieg Tarents zur wichtigsten griechischen Stadt Unteritaliens begann aber erst nach dem Untergang von Siris und Sybaris Ende des 6. Jhs. v. Chr. Ab der Mitte des 5. Jhs. v. Chr. erweiterte die Stadt ihr Territorium, zum Teil auch auf Kosten von Siris, dessen Stadtzentrum bis dahin überdauert hatte, und gründete 433 v. Chr. Herakleia. Seine größte Blüte und Macht erreichte Tarent während der 1. Hälfte des 4. Jhs. v. Chr. unter dem pythagoreischen Philosophen Archytas, einem Freund Platons, der sechs- oder siebenmal zum Strategen gewählt wurde und niemals eine Niederlage erlitt. Danach musste es auf die Hilfe fremder Könige und Söldner zurückgreifen, um sich gegen die feindlichen italischen Stämme der Messapier, Lukanier, Brettier und Samniten und schließlich gegen Rom zur Wehr zu setzen. Zwischen 344 und 338 v. Chr. half der König von Sparta, Archidamos III., zwischen 334 und 331 v. Chr. der König von Epeiros, Alexander der Molosser, zwischen 303 und 302 v. Chr. der spartanische Prinz Kleonymos und zwischen 281 und 275 v. Chr. der König von Epeiros, Pyrrhos. Nach dem Abzug des Pyrrhos (275 v. Chr.) fiel die Stadt 272 v. Chr. an Rom, erreichte allerdings einen Verbündeten-Status und durfte weiter Münzen prägen. Da Tarent durch Landwirtschaft, Fischfang und Viehzucht, den Handel und reiche kunsthandwerkliche Produktion eine reiche und wohlhabende Stadt war (Der neue Pauly, Enzyklopädie der Antike, Bd. 12/1, Spalte 21), hatte es sich bereits zwischen 510 und 280 v. Chr. eine Münzprägung geleistet, die sowohl an Quantität als auch an Qualität herausragend war. Doch wenngleich der überwiegende Teil der Münzen silberne Didrachmen (Nomoi) waren, die häufig einen nackten Reiter und fast immer den nackten Delphinreiter Phalantos zeigen – beide in den unterschiedlichsten Variationen, versteht sich – (Abb. 1.1 und Abb. 1.2), so soll hier doch der äußerst seltene und außergewöhnliche Tarentiner Goldstater (Abb. 2) vorgestellt werden.

Der Goldstater, von dessen Bildmotiven sowohl im Hinblick auf ihre Komposition als auch im Hinblick auf ihren Stil und ihre künstlerische Vollendung eine solche Faszination ausgeht, dass man sich dieser als Betrachter kaum entziehen kann, zählt zweifellos zum Eindrucksvollsten, was die antike griechische Numismatik je hervorgebracht hat. Aber wen oder was stellen seine Bildmotive dar?

Nun, auf der Vorderseite sehen wir eine schöne junge Frau, die im Haar über ihrer Stirn eine mit Palmetten verzierte Stephane und über ihrem Hinterhaupt einen schmalen dünnen Schleier trägt. Zudem ist sie mit einem dreifachen Ohrgehänge und einer Perlenhalskette geschmückt. Um wen es sich bei dieser Frau handelt, darüber gingen und gehen die Meinungen der Numismatiker weit auseinander. Für Barcley V. Head war es Demeter, für Peter Robert Franke Hera, für Cahn, Mildenberg, Russo und Voegtli Persephone, für G. K. Jenkins Amphitrite, für Rutter, Burnett, Crawford, Johnston und Price Hera und für Wolfgang Fischer-Bossert Satyra. Zwar räumen sowohl Jenkins als auch Fischer-Bossert ein, dass dieser Kopf zumeist als der der Hera gedeutet wurde, stehen dieser Deutung aber wegen des kleinen Delphins vor dem Kinn der Frau skeptisch gegenüber und halten Amphitrite (die Ehefrau des Poseidon) oder Satyra (die Lokalnymphe von Tarent) deshalb für die passendere Wahl. Sie ignorieren dabei aber die charakteristischen ikonographischen Merkmale der Hera, nämlich die Stephane und den Schleier. „Zu ihrer charakteristischen Ikonographie gehörten der Peplos mit Himation, der meist wie ein Schleier über ihren Kopf geführt ist, Polos oder Stephane sowie die Attribute Zepter, Phiale, Granatapfel.“ (Der neue Pauly, Enzyklopädie der Antike, Bd. 5, Spalte 360) Mit Stephane oder mit Stephane und Schleier geschmückt finden wir die Göttin Hera auch auf den Nomoi von Kroton, von Fenseris, von Hyria, von Pandosia, auf den Quadranten von Venusia und auf einigen anderen Münzen. Höchst interessant und bemerkenswert ist die Tatsache, dass die für diese Göttin so charakteristischen ikonographischen Merkmale Stephane und Schleier in der Welt der schönen Künste so gegenwärtig waren, dass sogar die klassizistischen Maler des ausgehenden 18. Jhs. noch darauf zurückgriffen, wenn sie Hera darstellten (siehe Abb. 3).

Doch wenden wir uns nun der Rückseite dieses goldenen Staters zu. Im Gegensatz zu anderen Rückseiten tarentinischer Münzen zeigt sie weder einen Reiter noch einen Delphinreiter, sondern eine ganz besondere Interaktion zwischen einem Knaben und einem Erwachsenen und damit auch für Tarent ein ungewöhnliches und einzigartiges Bildmotiv. Sieht man sich die Darstellung im Detail an, so fällt auf, dass der auf einem Hocker (griechisch „Diphros“) sitzende Mann im Hüftmantel, mit nacktem Oberkörper, Bart und langen Haaren in seiner Linken einen Dreizack hält und sich dem Betrachter auf diese Weise als Poseidon zu erkennen gibt. Der nackte Knabe vor ihm, der seine Ärmchen zu Poseidon hochstreckt, als bitte oder flehe er um etwas, könnte dann der kleine Flussgott Taras, der Sohn Poseidons, sein. Diesbezüglich herrscht Einigkeit unter den erwähnten Numismatikern, denn sie alle beschreiben die beiden Akteure als Poseidon und Taras.

Auf die Frage, weshalb Taras Poseidon anfleht, antworten sie jedoch unterschiedlich. Für die meisten von ihnen steht fest, Taras erfleht von Poseidon den kleinen Bogen, der in dessen Schoß liegt. „Sie [gemeint ist die Rückseite des Goldstaters] zeigt den Tarasknaben, wie er von seinem Vater Poseidon den Bogen erbittet.“ (Cahn, Mildenberg, Russo, Voegtli: Griechische Münzen aus Großgriechenland und Sizilien, S. 39) Dabei hält die Mehrheit das Bild für eine allegorische Darstellung, bei der Taras für Tarent und Poseidon für Sparta oder Epiros stehen, von denen Tarent militärische Unterstützung gegen die feindlichen italischen Stämme forderte. Während Evans, Vlasto, Franke und Kraay Sparta als Helfer ausmachen und die Münze dementsprechend in die Zeit um 344-338/34 v. Chr. datieren, sehen Cahn, Mildenberg, Russo, Voegtli, Rutter, Burnett, Crawford, Johnston und Price Alexander von Epiros als Helfer und datieren die Münze deshalb in die Zeit um 334-332/31 v. Chr. Auch verweisen sie darauf, dass Gold in Tarent nur in Krisen- oder Notzeiten geprägt wurde, wenn die Silberzuflüsse unterbrochen, die Reserven erschöpft und hohe Summen für die Bezahlung fremder Söldnerheere erforderlich gewesen seien.

Der eben beschriebenen Rückseiten-Interpretation steht der Numismatiker Wolfgang Fischer-Bossert allerdings sehr skeptisch gegenüber und erklärt: „Evans vermutete eine Anspielung auf eine historische Situation und sah das Hilfsersuchen der Tarentiner an ihre Mutterstadt Sparta symbolisiert, welche das Eingreifen des Königs Archidamos III. zur Folge hatte. J. Liegle deutete das Bild harmloser als ,Kinderszene‘; er glaubte zwischen den Falten des Himations auf Poseidons Knien einen kleinen Bogen erkennen zu können, um den der Knabe bettle. Kraay verknüpfte diese beiden Deutungen, indem er den Bogen zum Symbol der ersehnten militärischen Hilfe werden ließ. Doch Evans´ Ansatz läßt sich schon allein aus chronologischen Gründen nicht mehr aufrechterhalten; dazu tritt inzwischen eine generelle Skepsis gegenüber allegorischen Ausdeutungen von Münzbildern.“ (W. Fischer-Bossert: Chronologie der Didrachmenprägung von Tarent, S. 413) Zudem sieht Fischer-Bossert, wie auch schon Jenkins vor ihm, in dem vermeintlichen „Bogen“ aus Poseidons Schoß „allenfalls einen Stempelbruch“. Ferner datiert er den erwähnten Goldstater auf Grund von Hortfunden im Gegensatz zu anderen Goldemissionen Tarents nicht in eine Krisen- oder Notzeit, sondern in eine Phase der Prosperität (um 320 v. Chr.).

Ein ganz anderer Deutungsversuch des Taras-Poseidon-Bildmotivs als der bisher erwähnte findet sich dagegen bei L. Lacroix. Seiner Ansicht nach bittet Taras seinen Vater um eine eigene Stadt. Poseidon gewähre diese Bitte und verspreche ihm sogar eine Stadt, die seinen Namen trage – so Lacroix. Fischer-Bossert, der von diesem Deutungsversuch nicht angetan ist, sagt dazu: „Es ist nicht einzusehen, weshalb in diesem Bild mehr angelegt sein solle als bei anderen Darstellungen, welche die Zuneigung Erwachsener zu ihren Kindern schildern, gleichgültig ob es sich nun um Götter oder um Menschen handelt. Lacroix´ Interpretation ist rein assoziativ; sie beruht zudem auf einer Projektion hellenistischer Mythologie auf spätarchaische und klassische Verhältnisse, die in dieser Form nicht statthaft ist.“ (W. Fischer-Bossert: Chronologie der Didrachmenprägung von Tarent, S. 414) Überaus interessant ist in diesem Zusammenhang die Haltung G. K. Jenkins´, der einräumt, dass es in der Tat schwierig sei, sicher zu entscheiden, ob Taras um militärische Hilfe gegen die barbarischen Stämme bitte oder darum flehe, zu Ehren seines Vaters eine eigene Stadt gründen zu dürfen, dann aber ergänzend hinzufügt, dass die Ausdrucksform der griechischen Münzprägung die indirekte und mythologische Anspielung einer direkten faktischen im Allgemeinen vorziehe. „Wether the meaning is the comtemporary one, the appeal to send help against barbariens, or something of a more historical nature – Taras asking to be granted a city to found in his father´s honour – is difficult to be sure. Generally the idiom of Greek coinage prefers the oblique and mythological allusion to the directly factual.“ (G. K. Jenkins: Ancient Greek Coins, 2. revidierte Aufl. 1990, S. 117f.) Jenkins datiert diese Münze um 344-338 v. Chr. oder später.

Weitaus faszinierender noch als die Frage nach dem wahren Anliegen des Taras ist jedoch die besagte Bildkomposition und ihre künstlerisch-stilistische Umsetzung. Dem Knaben, der seinen Körper und seine Ärmchen so weit es nur geht nach oben streckt, um die Intensität und Inständigkeit seines Flehens so bestmöglich zu betonen, sitzt ein göttlicher Vater gegenüber, dessen Körpersprache sowohl eine große innere Ruhe und Gelassenheit als auch eine enorme Vertrauenswürdigkeit und wohlwollende Anteilnahme ausstrahlt. Vergegenwärtigt man sich zudem, dass die Dargestellten so beseelt und lebendig erscheinen, als bestünden sie nicht bloß aus kaltem Metall, dann wird verständlich, weshalb die Numismatiker Cahn, Mildenberg, Russo und Vögtli dieses Bildmotiv dem antiken Meistergraveur „KAL[...]“ zuschreiben und Jenkins diese Bildkomposition als „brilliantly engraved“ (brillant graviert) bezeichnet. (G. K. Jenkins: Ancient Greek Coins, 2. revidierte Aufl. 1990, S. 118) Führt man sich ferner vor Augen, dass von diesem Goldstatertypus nur 14 Exemplare auf uns gekommen sind – 12 mit „K“ und 2 mit „M“ unter dem Hocker des Poseidon –, so wird vielleicht nachvollziehbar, wieso einer dieser Statere in der XXVII. „The New York Sale“-Auktion von 2012 den horrenden Zuschlag von 350.000 US-$ erzielte (Schätzpreis war 70.000 US-$) und dieser Münztypus den Kennern als Goldstater der Spitzenklasse gilt.

Literatur

Peter Robert Franke, Max Hirmer: Die Griechische Münze. München 1964; Arthur J. Evans: The „Horsemen“ of Tarentum. London 1889; M. P. Vlasto: „Les monnaies d´or de Tarente“. In: JIAN 2 (1899), S. 303-340; J. Liegle: „Der bittende Tarasknabe“. In: Berliner Münzblätter 49, 1929, S. 466-471; O. E. Ravel: Descriptive Catalogue of the Collection of Tarentine Coins Formed by M. P. Vlasto. London 1947; British Museum (Hrsg.): A Guide to the Principal Coins of the Greeks. From circ. 700 B.C. to A.D. 270. Based on the Work of Barclay V. Head. London 1959, Nachdruck 1965; L. Lacroix: Monnaies et colonisation dans l´occident grec, 1965; Colin M. Kraay: Archaic and Classical Greek Coins. Nachdruck New York 1976; Herbert A. Cahn, Leo Mildenberg, Roberto Russo, Hans Voegtli: Antikenmuseum Basel und Sammlung Ludwig. Griechische Münzen aus Großgriechenland und Sizilien. Basel 1988; Gilbert Kenneth Jenkins: Ancient Greek Coins, 2. revidierte Auflage, London 1990; Wolfgang Fischer-Bossert: Chronologie der Didrachmenprägung von Tarent: 510-280 v. Chr. Berlin, New York 1999; N. K. Rutter et al. (Hrsg.): Historia Numorum, Italy. London 2001; Hubert Cancik, Helmuth Schneider (Hrsg.): Der neue Pauly, Enzyklopädie der Antike, 16 Bde. Stuttgart, Weimar 1996-2003; Wilhelm H. Roscher (Hrsg.): Ausführliches Lexikon der griechischen und römischen Mythologie, 10 Bde., 3. Nachdruckauflage. Hildesheim, Zürich, New York 1992/93.

Den in den Abbildungsunterschriften erwähnten Auktionshäusern und Quellen sei an dieser Stelle ausdrücklich und herzlich gedankt.

aus MünzenRevue Ausgabe 04/2016


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